Die Immuntherapie der MS ist für viele Patienten eine wichtige Maßnahme, aber sie ist nicht die einzige Strategie, derer wir uns bedienen. Zwar sind Immuntherapien insbesondere in den frühen Erkrankungsphasen die wichtigste therapeutische Maßnahme, aber diese (scheinbare) Hierarchie gilt nicht für jedes Stadium der Erkrankung und nicht für jede Altersklasse. Die Rehabilitation mit ihren vielfältigen Angeboten einer symptomatischen Therapie hat v.a. in späteren Phasen der Erkrankung wahrscheinlich einen größeren Stellenwert als die Immuntherapie, v.a. wenn es um eine unmittelbare Verbesserung der individuellen Situation geht.
Ich möchte ihnen ein kleines Bespiel geben. Eine Patientin, die ich vor einiger Zeit gesehen habe, litt seit Jahren unter einer MS, die schon zu deutlichen neurologischen Einschränkungen geführt hat. Die Vorstellung erfolgte mit dem Wunsch nach einer hocheffizienten medikamentösen Therapie – „es müsse jetzt doch endlich mal was gemacht werden“, so wurde es vor allem von ihren Angehörigen mit Nachdruck vorgetragen. Nachdem seit Jahren keine Schübe mehr aufgetreten waren und das MRT ebenfalls keine Veränderungen mehr zeigte, habe ich keinen wirklichen Grund für eine Veränderung der medikamentösen Therapie gesehen. Auf der anderen Seite stellte sich heraus, dass seit Jahren keine REHA mehr durchgeführt wurde, dass Physiotherapie zwar wöchentlich, aber nur in Form von Massagen durchgeführt wurde, und körperliche Aktivität und Bewegung Fremdworte waren. Für eine ausgeprägte Sprech- und damit verbundene Atemstörung wurde nie eine logopädische Behandlung angedacht. Ich habe daher deutlich gemacht, dass ich in diesem Fall vor jeder Immuntherapie erst einmal die Optimierung einer symptomatischen Therapie sehen würde, insbesondere auch wegen der schweren Atemstörung. Ich habe intensive Logopädie und eine stationäre Reha empfohlen. Zudem habe ich versucht, auch den Angehörigen die Wichtigkeit von Physio-, Ergo- und Logopädie in den späten Phasen der Erkrankung näherzubringen. Trotz der schweren Behinderung habe ich die Wichtigkeit von körperlicher Aktivität betont. Mir ist es aber definitiv nicht gelungen diese, Botschaft zu vermitteln – ich habe im Nachgang einen enttäuschten Brief bekommen: „Ich hätte die Situation nicht ernst genommen, ich hätte nichts getan und ihr lebenswichtige Medikamente vorenthalten…“
Dieser Fall ist einem anderen Fall sehr ähnlich. Auch hier zeigte sich keine offensichtliche entzündliche Aktivität, weswegen ich keine Immuntherapie empfohlen habe. Auch hier lag der Schwerpunkt auf Rehabilitation. Im speziellen Fall hatten wir ein besonderes Augenmerk auf die Sprech- und Schlucksituation gelegt, die durch intensive Therapie deutlich verbessert wurde, wodurch die Lebensqualität der Patientin gesteigert werden konnten. Ich denke, obwohl wir auch hier keinen immuntherapeutischen Ansatz verfolgt haben, konnte der Patientin in erheblichem Maße geholfen werden.
Ich wehre mich also die Auffassung, man würde nichts tun, wenn man kein MS-Medikament verordnet. Rehabilitation und symptomatische Therapieansätze können insbesondere in späteren Erkrankungsphasen ganz wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität führen und verdienen es, als gleichwertige Maßnahmen betrachtet zu werden. Wahrscheinlich ist es an der Zeit, dass – insbesondere wo jetzt Bestrebungen sichtbar werden, geeignete Immuntherapien für späte Erkrankungsphasen zu identifizieren – auch Reha-Strategien bereits früher im Krankheitsverlauf implementiert werden, um dadurch Körper- und Bewegungskompetenz so früh wie möglich aufzubauen. Auch dies ist eine Art von prophylaktischer Therapie.
Sehr geehrte Damen und Herren, bislang ist es für mich schwieriger Reha bzw. gute Physiotherapie zu erhalten als Medikamente. Ich lebe auf dem Land und habe mind. 20 km zu bewältigen bis ich eine Praxis erreiche und die KK verweigern mir stationäre Rehabilitation. Für mich stellt sich die Frage, ob nicht die Krankenkassen mehr über die Notwendigkeiten von Rehabilitationen in Kenntnis gesetzt werden sollten. Als Patient renne ich da gegen Mauern.
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Professor Mäurer,
Ihr Beitrag spricht mich sehr an. Ich bin 75 Jahre alt und meine MS ist vor 10 Jahren mühsam aufgrund der MRT-Bilder von Schädel und Rückenmark diagnosziert worden. Mittlerweile sind seit Jahren keine neuen „weißen Bereiche“ enntdeckt und keine Aufnahme von Kontrastmittel mehr festzustellen, sodass sich wohl, wie es der Radiologe nannte, um eine ausgebrannte E.D. handelt. Mein Neurologe sah den Einsatz von Ocrelizumab für diese primär progrediente MS skeptisch. So behandle ich mein Leiden mit täglicher umfangreicher Gymnastik und muss dabei aber sehen, wie das Laufen immer schwerer bis unmöglich wird, nachdem Schreiben auch mit Tastatur schon länger kaum noch möglich ist. Das macht auch den Besuch einschlägiger Therapie-Praxen (Physio-, Ergotherapie) schwierig bis unmöglich. Muss ich das jetzt als mein Schicksal akzeptieren? Freundlicher Gruß Rainer Kolb