Die Sehnervenentzündung (Optikusneuritis) ist nicht selten das Erstsymptom einer Multiplen Sklerose und damit Auftakt für eine zielgerichtete Diagnostik und häufig auch der Startpunkt einer spezifischen Immuntherapie. Daher ist es verwunderlich, dass es bisher für die Optikusneuritis keine allgemeinen Diagnose- bzw. Klassifikationskriterien gab. Diese Lücke wurde jetzt durch eine kürzlich im Wissenschaftsmagazin THE LANCET publizierte Arbeit geschlossen. Zur Erstellung der Diagnosekriterien hat sich eine Gruppe von 101 internationalen Experten zusammengefunden. Neurologen, Neuroradiologen und (Neuro)Ophtalmologen (=Augenärzte mit einer Spezialisierung für Nervenerkrankungen des Auges) haben zwischen April 2020 und Mai 2021 in einem sogenannten validierten Delphi-Prozess neue Diagnosekriterien für die Optikusneuritis entwickelt. Als Delphi-Prozess (benannt nach dem „Orakel von Delphi“) bezeichnet man ein systematisches, mehrstufiges Befragungsverfahren mit Rückkopplung, bei dem eine Gruppe von Experten in mehreren Fragerunden Thesen zu einem Beratungsthema einschätzt. Die Methode gilt als probates Mittel, um einen Konsens unabhängig vom Einfluss einzelner Personen zu finden. Die nun publizierten Ergebnisse der Expertengruppe sind für MS Patienten durchaus von Interesse, daher möchte ich sie kurz zusammenfassen.
Klinische und paraklinische Diagnosekriterien
Die Diagnose einer Optikusneuritis sollte auf klinischen Befunden und paraklinischen Befunden basieren. Als klinische Kriterien gelten: (A) der einseitige, subakute Visusverlust mit Schmerzen im Bereich der Orbita, der sich bei Augenbewegungen verstärkt (Bulbusbewegungsschmerz) mit Farbentsättigung und verminderter Kontrastwahrnehmung (B) ein schmerzloser Visusverlust bei dem aber außer dem Bulbusbewegungsschmerz alle anderen unter (A) genannten Kriterien vorkommen und (C) ein beidseitiger Visusverlust, bei dem alle unter (A) oder (B) genannten Kriterien zutreffen.
Unter paraklinischen Kriterien versteht man die Ergebnisse von technischen Zusatzuntersuchungen. Hier werden genannt 1) Die Optische Kohärenztomographie (OCT) – eine Laserabtastung des Augenhintergrunds, mit der die Dicke der unterschiedlichen Netzhautschichten gemessen werden kann. Diese Methode ist allerdings (noch) nicht flächendeckend bei Augenärzten oder Neurologen/neurologischen Kliniken verfügbar. 2) Die Kernspintomographie (MRT) – hier ist entweder die akute Kontrastmittelanreicherung des symptomatischen Sehnervs oder eine im Verlauf sichtbare Signalanhebung des Nerven von diagnostischer Bedeutung. 3) Biomarker wie der Nachweis von Autoantikörpern (z.B.. gegen Aquaporin-4 oder MOG) oder der Nachweis oligoklonaler Banden im Liquor.
Die Kombination der o.g. klinischen und paraklinischen Kriterien erlaubt dann die Diagnose einer entweder sicheren oder möglichen Optikusneuritis. Von einer sicheren Optikusneuritis kann ausgegangen werden, wenn die klinischen Kriterien für (A) erfüllt sind und einer der o.g. paraklinischen Test ein entsprechendes Ergebnis erbracht hat; liegt ein schmerzloser Visuverlust vor (B) dann werden zwei positive paraklinische Test benötigt; bei Vorliegen eines beidseitigen Visusverlustes (C) müssen ebenfalls zwei positive paraklinische Test vorliegen, von denen aber einer ein MRT Befund sein muss.
Eine mögliche Optikusneuritis kann angenommen werden, wenn die klinischen Kriterien (A), (B) oder (C) in der Akutsituation vorliegen, aber (noch) keine paraklinischen Tests, die diese Annahme stützen. Im Falle positiver paraklinischer Befunde und anamnestischen Hinweisen auf eine abgelaufene Sehnervenentzündung, kann ebenfalls eine mögliche Optikusneuritis angenommen werden.
Ich verstehe, wenn Sie das jetzt beim Lesen als umständlich und vielleicht sogar verwirrend empfunden haben. Auf der anderen Seite sind präzise Diagnosekriterien von großer Wichtigkeit für die Einordnung einer Sehstörung. Die Autoren betonen zurecht, dass davon ausgegangen werden kann, dass mehr als 60 Erkrankungen als Ursache für eine Optikusneuritis in Frage kommen. Nicht immer handelt es sich hierbei um Erkrankungen, die chronisch verlaufen und eine langfristige Immuntherapie benötigen. Daher schlagen die Autoren auch eine Unterscheidung in verschiedene Subtypen vor, wobei eine Klassifikation in autoimmune (üblicherweise schubförmig, bzw. wiederkehrend verlaufende) und systemische (üblicherweise einzeitig verlaufende) Optikusneuritiden (ON) konsentiert wurde. Zu den autoimmunen Optikusneuritiden (ON) gehört selbstredend die Optikusneuritis bei MS oder auch die Optikusneuritis im Rahmen einer Neuromyelitis optica (NMO) mit Antikörpern gegen Aquaporin-4. Aber auch seltenere Formen von chronischen Sehnervenentzündungen, die gut auf Kortison ansprechen. Hinsichtlich der Sehnervenentzündungen, die im Rahmen von Systemerkrankungen auftreten, nennt die Publikation unter anderem post-infektiöse Entzündungen und gibt einen ausführlichen Überblick über eine Vielzahl von Systemerkrankungen, bei denen der Sehnerv (mit)beteiligt sein kann.
Die hier besprochene Arbeit ist aus wissenschaftlicher Sicht von Wichtigkeit, weil sie zum einen mehr Klarheit schafft und zum anderen für zukünftige (Medikamenten)Studien von Bedeutung ist.
Vielen Dank 🙂 ich hoffe, das macht es für viele neue MS-Patienten einfacher und schneller in der sicheren Diagnostik.
Leider wurde mein zeitweiser Sehverlust damals von der Augenärztin nicht als möglicher Hinweis auf eine MS erkannt. Diese Diagnose erhielt ich dann erst 6 Jahre später, als ich plötzlich nicht mehr laufen konnte. Relativ schnell musste dann die Therapie auch eskaliert werden, da die MS dann hochaktiv war.