Therapie absetzen?

Ich habe kürzlich in meiner Sprechstunde eine 30-jährige Patientin gesehen, bei der 2016 eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Sie wurde aufgrund einer moderaten Krankheitsaktivität auf PEGyliertes Interferon-beta 1a eingestellt. Seither traten weder klinische Schübe auf, noch wurde neue Aktivität im MRT festgestellt. Die Patientin selbst gab an, dass sie sich gut fühle und im Alltag keine Probleme habe. Insgesamt handelt es sich also um einen sehr stabilen Verlauf, das Therapieziel – nämlich Freiheit von Krankheitsaktivität – wurde erreicht. Dennoch war die Patientin eher unzufrieden – sie sehe nicht mehr ein, sich regelmäßig zu spritzen, sie sei sich unsicher, ob das Medikament überhaupt etwas bringen würde und überhaupt empfände sie die dauerhafte Anwendung des Medikamentes als schädlich.

Grundsätzlich verstehe ich das Anliegen meiner Patientin – die langfristige Anwendung von MS- Medikamenten verlangt Patienten einiges ab. Die Interferon-Therapie mit den Problemen der grippe-ähnlichen Nebenwirkungen und der Injektionsreaktionen sind eine Herausforderung. Auch den grundsätzlichen Wunsch einer jungen Patientin, keine Medikamente anwenden zu müssen, verstehe ich.

Das „Präventionsparadox“

Auf der anderen Seite zeigt dieser Fall auch ein Problem auf, dem wir argumentativ häufig in der Coronapandemie begegnet sind. Es kann im weitesten Sinn als „Präventionsparadox“ bezeichnet werden kann: Präventionsmaßnahmen, die erfolgreich greifen, wie hier das Interferonpräparat zur Behandlung der MS, lassen das Problem (die MS) kleiner erscheinen als es ist.

Zum einen wissen wir anhand von prospektiven Studien, dass auch moderat wirksame MS- Medikamente wie die Interferone eine langfristig positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf haben. Diese älteren Daten aus den Anfängen der 2000er Jahre konnten auch mit aktuellen Daten aus großen Registerstudien bestätigt werden. Zum anderen wissen wir aus Fall-Kontroll-Studien, dass nach dem Absetzen von MS-Medikamenten die ursprüngliche Krankheitsaktivität wieder zurückkehrt. Das gilt auch für moderat wirksame Medikamente wie Interferone und Glatitrameracetat. Darüber hinaus existieren gerade für die o.g. Wirkstoffklassen langjährige Sicherheitsdaten, die belegen, dass die o.g. Substanzen kaum Risiko bei langjähriger Anwendung haben. Sie besitzen somit aus medizinischer Sicht ein gutes Nutzen-Risiko-Verhältnis.

Somit wäre die naheliegende Empfehlung, die Therapie fortzusetzen. Aber, wie schon oben angesprochen, so einfach sollte man über den Patientenwunsch natürlich nicht hinweggehen. Daher sehen die aktuellen Leitlinien – wie auch schon die vorherigen Versionen – auch Empfehlungen zum Absetzen der Therapie vor. Hier heißt es: „Bei Patienten, die vor Einleiten einer Immuntherapie nur eine geringe Krankheitsaktivität ausweisen und unter der bisherigen Therapie mit einem Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 keine Krankheitsaktivität zeigen, kann bei entsprechendem Patientenwunsch nach einem Zeitraum von mindestens fünf Jahren eine Therapiepause erwogen werden. Patienten sollen darüber aufgeklärt werden, dass der Zeitraum von fünf Jahren nicht evidenzbasiert ist und es keine kontrollierten Absetzstudien gibt, mit denen das Krankheitsrisiko nach dem Absetzen zuverlässig eingeschätzt werden kann“.

Ergebnisse kontrollierter Absetzstudien fehlen

Man darf somit auf die Ergebnisse der kontrollierten Absetzstudien gespannt sein. Vielleicht gelingt es dann, sich eindeutiger zum Thema Absetzen der Therapie zu positionieren. Bis dahin kann die Stellungnahme in den Leitlinien zumindest eine Hilfestellung sein. Demnach könnte man dem Wunsch meiner Patientin, die mittlerweile mehr als 5 Jahre mit einem Präparat der Wirksamkeitskategorie 1 behandelt ist und augenscheinlich vor Einleitung der Immuntherapie keine allzu hohe Krankheitsaktivität aufgewiesen hat, nachgeben und einen Absetzversuch wagen.

Ich würde dann allerdings darauf bestehen, dass der weitere Verlauf engmaschig klinisch und mit der MRT kontrolliert wird. Falls sich wieder Aktivität zeigt, oder auch andere Parameter der Erkrankung wie z.B. die Fatigue sich verändern, sollte die Wiederaufnahme der Therapie besprochen werden. Darüber hinaus würde ich auch einen Punkt beim Lebensalter machen. Mit 30 Jahren sind Autoimmunerkrankungen häufig noch sehr aktiv und man muss noch lange mit der Erkrankung leben. Von daher sehe ich das Absetzen der Therapie bei jüngeren Patienten viel kritischer als das Absetzen in einem höheren Lebensalter (Studien definieren das häufig als > 45 Jahre).

Dementsprechend habe ich meiner Patientin geraten, sich das mit dem Absetzen der Therapie sehr genau zu überlegen. Denn eigentlich wurde ja mit der Therapie genau das erreicht, was wir uns gewünscht haben. Und sie hat noch viele Jahre vor sich, in denen die Erkrankung aktiv sein kann. Ich bin gespannt, wie sie sich letztlich entscheidet…

Verträglichkeitsprobleme sind lösbar

Und es sollte noch an dieser Stelle erwähnt werden, dass Verträglichkeitsprobleme mit einer Substanz immer offen angesprochen und ernst genommen werden sollten. Aber die Lösung sollte hier nicht Absetzen sein, sondern der Wechsel auf eine besser verträgliche Substanz. Und hier kommt uns die große Auswahl an unterschiedlichen Therapien entgegen. Verträglichkeitsprobleme sollten heutzutage kein Grund für das Absetzen einer wirksamen Therapie sein.

17 Kommentare

  1. Hallo, habe alle Kommentare tief berührt gelesen, da ich nach 27 Jahren MS Therapie mit Betaferon wegen starker Nebenwirkungen anwendungsmüde
    geworden bin, obwohl ich mich mit einem moderaten Verlauf glücklich schätzen kann. Dennoch bestimmt die Therapie nach Injektion, stark belastend über 3 Tage andauernd, meinen Alltag im Berufsleben.
    Dazu kommt, dass es keine Rücksichtnahme in einer Leistungsgesellschaft gibt, wer da ist, hat zu leisten.
    Es ist verdammt schwer, mit der Krankheit zu leben und einen gemeinsamen Kontext zu finden.
    Die Auszeiten, die ich mir aus Vernunftsgründen, wegen sich andeutender Symptome leiste, werden immer größer. Eine Art Überlebenstraining, mit dem ich gut klar komme.
    Seit 3Jahren überlege ich nach Abwägung aller Risiken und mehreren Gesprächen mit meinem Neuro, mit der Therapie aufzuhören.
    Ständige Infekte sorgten zudem für eine große Belastung, sodass ich den Organismus nicht noch zusätzlich belasten wollte.
    Ja und ich muss zugeben, dass ich Angst habe, um mich dafür selbst zu bestrafen. Seit Beginn des Jahres habe ich 5 Injektionen weggelassen und tröste mich damit, dass ich im 64. Lebensjahr nicht mehr die Wirkungsmechanismen des Medikamentes erwarten kann, da parallele Erkrankungen hinzugekommen sind.
    Eine Umstellung bringt erneute Probleme mit sich.
    Daher bleibt einzig die Überlegung, eine Therapiepause mit MRT und Blutbild Kontrolle einzulegen.
    Wünsche allen Betroffenen alles Gute auf der Suche nach Antworten für ein Leben mit MS.
    LG Sabine

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