Spritzen sind eine mögliche Darreichungsform in der Behandlung der MS, neben Infusionen und Tabletten.

Impfung gegen Multiple Sklerose (MS)

„Was meinen Sie, soll ich jetzt die MS-Behandlung beginnen oder soll ich auf die Impfung gegen MS warten?“ fragte mich Ende Januar 2021 eine junge MS-Patientin, die mich für eine zweite Meinung aufgesucht hatte. Ich musste mich erst einmal kurz orientieren. Ich werde ja ständig zum Thema Impfen gefragt, aber vorwiegend im Zusammenhang mit COVID19. Aber nein, die junge Frau sprach mich tatsächlich auf eine kurz vorher im renommierten Wissenschaftsmagazin Science erschienene Arbeit (Krienke et al. Science 08 Jan 2021: Vol. 371, Issue 6525, pp. 145-153) zu einer Multiple-Sklerose-Impfung an. Sie war von Kollegen der Immunologie und Translationalen Onkologie der Universität Mainz publiziert worden und die beiden Biontech- Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin sind Koautoren. Also die Wissenschaftler, die den extrem effizienten mRNA-Impfstoff gegen COVID19 entwickelt haben. Sicher hat auch deswegen die oben genannte Arbeit in der Folgezeit eine erhebliche mediale Aufmerksamkeit bekommen, und bei vielen MS-Patienten Hoffnungen geweckt.

Bedeutung der Immuntoleranz

Um zu verstehen, was in dem Experiment gemacht wurde, muss man zuerst etwas tiefer in die Immunologie einsteigen und einen wichtigen Sachverhalt erläutern: Adaptive Immunzellen (T- und B-Lymphozyten) sind nicht nur in der Lage, Antigene zu bekämpfen und zu eliminieren. Unter bestimmten Bedingungen können sie sich auch tolerant gegen Antigene verhalten. Immuntoleranz ist sogar ein ganz wichtiger und normaler Vorgang. Denn im Laufe unseres Lebens müssen Immunzellen lernen, sich tolerant gegenüber Selbst-Antigenen (also körpereigene Proteine) zu verhalten und Fremd-Antigene (also z.B. Viren, Bakterien) aggressiv zu bekämpfen. Ein wesentliches Merkmal bei MS ist die gestörte immunologische Toleranz gegenüber Selbstantigenen des zentralen Nervensystems, wodurch es zur Bildung autoreaktiver T-Zellen kommt, die das ZNS attackieren.
Dementsprechend gibt es schon lange den therapeutischen Ansatz, bei MS-Patienten die Immuntoleranz gegen ZNS Antigene wiederherzustellen und damit die Autoimmunerkrankung MS zu kontrollieren bzw. sogar zu heilen. Leider konnten hier, trotz vielversprechender Ansätze, bisher noch keine Erfolge erzielt werden – obwohl der Ansatz in sich logisch ist.

In dem aktuellen Science Paper zur „Multiple-Sklerose-Impfung“ wird jetzt ein neuartiger Ansatz der Toleranzinduktion beschrieben. Und zwar auf der Basis des mRNA-Systems von Biontech, auf dem auch der COVID19-Impfstoff basiert. Dieser Impfstoff beruht ja darauf, dass man den Bauplan des SARS-CoV2 Spike Proteins (also die virale mRNA des Spike Proteins) in Nanopartikel verpackt und diese injiziert. Im Körper verschmelzen die Nanopartikel mit der Membran von Antigen-präsentierenden Zellen, die dann aus der mRNA das Spike Protein herstellen, auf ihrer Oberfläche präsentieren und dadurch eine effiziente Immunreaktion, die gegen das Corona Virus gerichtet ist, auslösen – und uns damit gegen COVID19 schützt.

Impfung gegen MS im Experiment am Tiermodell

Bei dem „Impfexperiment gegen MS“ hat man das gleiche Nanopartikel-System benutzt wie für COVID19. Dieses Mal hat man nicht den Bauplan des viralen Spike Proteins in die Nanopartikel verpackt, sondern der Bauplan von Proteinen des zentralen Nervensystems (Autoantigene). Die Autoren konnten zeigen, dass auch die selektive Abgabe von Autoantigenen an Antigen-präsentierende Zellen möglich ist und dadurch eine periphere Immuntoleranz erzeugt werden kann. Genaugenommen ist somit auch der Begriff „Impfung“ irreführend, denn eigentlich handelt es sich um das Gegenteil, nämlich eine Toleranzinduktion.

Die Präsentation von Autoantigenen in diesem nicht entzündlichen Kontext führte zu einer starken Expansion von regulatorischen T-Zellen, die in der Lage sind, aggressive Entzündungszellen zu hemmen und die Gewebsentzündung zu unterdrücken – wie in dieser Arbeit am Tiermodell der experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) sehr eindrucksvoll gezeigt werden konnte, gut funktioniert.

Ergebnisse aus Tiermodell der MS nicht einfach auf Menschen übertragbar

Und hier liegt das Problem. Die Ergebnisse beziehen sich auf ein Tiermodell der MS und es ist leider Fakt, dass Strategien, die in Mäusen mit experimenteller autoimmuner Enzephalomyelitis funktionieren, nicht einfach auf den Menschen zu übertragen sind. Im Gegensatz zum Tiermodell sind die Zielantigene bei der MS nicht bekannt. Das hat dazu geführt, dass in der Vergangenheit Antigen-spezifische Therapieansätze, die unter Laborbedingungen funktioniert haben, im Humanexperiment sogar teilweise unerwartet zu einer Verstärkung der Entzündung im Gehirn geführt haben. So war bislang noch kein Antigen-spezifischer Therapieansatz in der Multiplen Sklerose erfolgreich.

Das Vorhaben einer „Multiple-Sklerose-Impfung“ ist zwar ein faszinierendes Ziel und jedwede Bemühung ist zu begrüßen – und der hier gewählte Ansatz ist eine großartige Demonstration der Möglichkeiten der neuen mRNA-Technologie – aber letztlich fehlt uns noch das Grundverständnis der Entzündungsprozesse, um diese Technologie erfolgreich beim Menschen zu nutzen.
Daher musste ich meiner Patientin ganz klar dazu raten, diese grundlagenwissenschaftlichen Ansätze zwar interessiert zur Kenntnis zu nehmen, aber sich in der Realität für eine Therapie zu entscheiden, die jetzt verfügbar und zugelassen ist. Denn erfahrungsgemäß dauert es vom Tierexperiment bis zum fertigen Medikament bis zu 15 Jahren – wobei die meisten möglichen Ansätze gar nicht weiterentwickelt werden.

4 Kommentare

  1. Ich gebe Ihnen natürlich recht, dass das Tiermodell nicht auf den Menschen übertragbar ist. Nichtsdestotrotz liefert die Studie auch überzeugende Daten bezüglich der „Bystander“-Toleranz der Treg Zellen durch die Impfung, wodurch die Anwendung auch für die polyantigene Form der Multiple Sklerose im Menschen in Frage kommen könnte und wirklich vielversprechend ist.

  2. vom tierexperiment bis zum fertigen medikament dauert es bis zu 15 jahre? wieso haut man dann die coronaimpfung OHNE tierversuche und SOFORT auf den markt und in den menschlichen körper???
    also halt ein menschliches experiment?

    1. @Christa, ganz einfach:
      Bei der Corona-Impfung wurden innerhalb von kürzester Zeit zig Fördergelder zur Verfügung gestellt, da hier eine deutlich größere Zielgruppe (alle Menschen) betroffen ist, als beispielsweise bei der MS (kleine Zielgruppe).

      Durch dieses Geld konnte Forschung und Entwicklung parallel betrieben werden, was hier eben nicht der Fall ist.

    2. Im Fall der SARS-CoV-2-Impfstoffe sind Prozesse und behördliche Verfahren erheblich verkürzt bzw. gestrafft worden. (Den Grund dafür kann sich wohl jeder vorstellen)
      Es nicht mit der unter den Umständen höchstmöglichen Sicherheit und Eile auf den Markt zu bringen, könnte man auch wie ein menschliches Experiment betrachten – mit der Fragestellung: „Wieviele Individuen müssen SARS-CoV-2 sterben, bis Herdenimmunität einsetzt“.
      Oder so ähnlich.

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