Dieser Fall ist schon nicht mehr ganz neu – genauer gesagt kam die Meldung im Oktober 2014 – trotzdem höre ich immer wieder Nachfragen zur Sachlage, weshalb ich den Fall noch einmal kurz kommentieren möchte. Im Oktober 2014 mussten wir leider erfahren, dass eine Patientin, die innerhalb der Verlängerungsstudie der Zulassungsstudien (ENDORSE) mit Tecfidera behandelt wurde, eine PML entwickelt hat und an den Folgen dieser Erkrankung gestorben ist. Die Frage ist nun, in wieweit dieser Fall unsere Einschätzung von Tecfidera in der Behandlung der schubförmigen MS verändert.Grundsätzlich ändert sich sicherlich nichts an der Einschätzung der Indikation und der Wirksamkeit von Tecfidera. Das Medikament ist eine wertvolle orale Alternative in der Basistherapie der MS und besitzt eine gute klinische Wirksamkeit und ein akzeptables Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil. Was sich allerdings ändern wird, sind die Anforderungen an die Überwachung von Patienten, die mit Tecfidera behandelt werden. Ursprünglich sah die Fachinformation vor, dass es ausreichend ist, das Blutbild von Patienten mit Tecfidera in sechsmonatigen Abständen zu kontrollieren.
Nun wurde bekannt, dass die Patientin vor Entwicklung der PML über Jahre eine erhebliche Reduktion der Lymphozytenzahl auf unter 500/µl gezeigt hatte. Da auch bei den wenigen Fällen von PML im Zusammenhang mit Fumaderm (der Fumarsäurepräparation, die schon seit 1994 zur Therapie der Schuppenflechte eingesetzt wird) eine langanhaltende Lymphozytensuppression vorgelegen hat, kann man davon ausgehen, dass dies ein entscheidender Risikofaktor für die Entwicklung einer PML unter Behandlung mit Fumarsäure darstellt. Aus diesem Grund muss in Zukunft eine regelmäßige (6 – 8 wöchentliche) Kontrolle des Differentialblutbildes unter Therapie mit Tecfidera vorgenommen werden – wie es die deutschen Therapieleitlinien übrigens schon seit der Zulassung des Präparates empfohlen haben.
Unterschreiten die Lymphozyten bei diesen Kontrollen eine kritische Grenze, muss diese Entwicklung engmaschiger kontrolliert werden. Für den Fall, dass sich eine dauerhafte Erniedrigung unter die kritischen Grenzwerte zeigt, sollte aus meiner Sicht eine alternative Therapie gewählt werden. Grund zu Panik besteht in einem solchen Fall nicht. Die bisherige Erfahrung lehrt uns, dass die Lymphozytensuppression wohl über einen längeren Zeitraum bestehen muss, bevor es zu einer opportunistischen Infektion kommt. Wenn man also rechtzeitg reagiert, ist genug Zeit und Ruhe für einen überlegten Therapiewechsel.
Aus den Studien wissen wir, dass ca. 6 – 8% der Patienten unter Tecfidera eine ausgeprägte Lymphopenie entwickeln, ohne das dies vorhersagbar ist. Für diese Patientengruppe stellt Tecfidera keine sinnvolle MS-Therapie dar. Angesichts der Vielzahl von verfügbaren Alternativen, sollte eine Umstellung aber kein Problem darstellen.
Ansonsten ergeben sich aus meiner Sicht keine weiteren Konsequenzen aus diesem ersten PML Fall unter Tecfidera. Natürlich wird man jetzt sehr wachsam sein und schauen, wie die weitere Entwicklung des Wirkstoffes im klinischen Einsatz ist.
Der Hersteller von Tecfidera (Biogen Idec) hat das PML-Risiko unter Tecfidera wohl aus Marketing-taktischen Gründen verschwiegen. Schon vor ein paar Jahren mußte Biogen öffentlich einräumen:
1. daß es unter dem Vorgängerprodukt Fumaderm (Biogen) zu PML-Fällen gekommen ist
2. daß Lymphopenie ein bekannter Risikofaktor für PML ist
3. daß Tecfidera die Lymphozyten genauso senkt wie schon Fumaderm
Wie kann man dieses Risiko bis heute im Beipackzettel verschweigen (anstatt engmaschige Blutkontrollen wie bei Fumaderm vorzuschreiben)?
Der Todesfall der deutschen Patientin wäre auf jeden Fall zu vermeiden gewesen.
Ich hoffe, daß dieser Umstand noch zu rechtlichen Konsequenzen führen wird.
Das Verhalten von Biogen finde ich einfach nur zynisch und menschenverachtend.
Ich als Betroffene (schwere Lymphopenie unter Tecfidera = <0,5) bin übrigens nicht bereit, dauerhaft mit Lymphozyten-Werten von unter 1,1 herumzulaufen. Das ist der Grenzwert für eine Lymphopenie. Da können mir noch so viele Neurologen sagen: gefährlich wird es erst unter 0,5.
Da nehme ich lieber gar nichts – bin auch schubfrei seitdem.
Jetzt auch wieder ein PML Fall unter Fingolimod:
http://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/index.php?w3pid=news&kategorie=therapien&anr=5574
Es würde mich nicht wundern, wenn auch hier wieder eine schwere Lymphopenie (Lymphozyten unter 0,5, bzw. 500) die Ursache für die PML sind. Bei Fingolimod läßt man die Leute doch tatsächlich mit Werten bis zu 0,2 herumlaufen. Ich fasse es nicht.
Sehr geehrter Prof. Mäurer,
wieso wird bzw. wurden die Grenzwerte nicht von anfang an von Fumaderm übernommen?
Auch die Blutuntersuchungen sind heute noch engmaschiger unter Fumaderm als unter Tecfidera…
Und die nächste Anmerkung noch, kaum ein Arzt wusste dass die deutschen Therapieleitlinien andere waren als die vom Hersteller veröffentlicht.
Grüße
Lucy