Der 32 jährige Ingenieur hatte mit 25 Jahren die Diagnose MS bekommen. Aus meiner Sicht ist anfangs alles ziemlich glatt gelaufen: Die Diagnose wurde direkt nach dem ersten Ereignis gestellt und es wurde eine Immuntherapie eingeleitet. Er hatte sich damals nach ausführlicher Aufklärung für ein Interferon entschieden und kaum unter Verträglichkeitsproblemen gelitten. Die Therapie hat er nach eigenen Angaben „sehr regelmäßig“ durchgeführt.Bis 2012 hat er von der Erkrankung gar nichts mehr bemerkt. Seine regelmäßigen MR-Kontrollen waren stabil, in den ersten Jahren zeigte sich sogar eine leichte Rückbildung der Herdbelastung. Seit Mitte 2012 berichtet er aber über das Wiederauftreten von Schüben. Diese waren eher mild – meistens handelte es sich um Sensibilitätsstörungen, die sich nach einer Kortisongabe durch den Hausarzt wieder komplett zurückgebildet haben. Aber die Ereignisse sind eindeutig als MS-Schübe zu klassifizieren. Auch im MRT läßt sich seit 2013 eine Zunahme der Herdbelastung nachvollziehen – im letzten MRT, das er mir bei der Vorstellung vorlegte, waren auch zwei neue Herde mit Kontrastmittelaufnahme nachweisbar. Klinisch bestanden allerdings keinerlei Beschwerden – auch bei der neurologischen Untersuchung zeigte sich ein Normalbefund.
Angesichts dieser Entwicklung habe ich dem Patienten und seiner Ehefrau in einem ausführlichen Gespräch einen Wechsel auf ein Präparat, dass bei höher aktiver MS angezeigt ist (also Fingolimod/Alemtuzumab,/Natalizumab) geraten. Dies erstaunte meinen Patienten und er sagte einen Satz, den ich gar nicht so selten zu hören bekomme: „Hin und wieder mal ein Schub, ist das denn so schlimm? – Mir geht es doch gut.“
Ich verstehe seine Sichtweise – er empfindet die sensiblen Schübe als wenig belastend und kann bisher auch keine negativen Auswirkungen der Erkrankung feststellen. Ihm geht es in der Tat gut, er hat keine Beschwerden und daher auch überhaupt kein Interesse, die Medikation zu verändern und auf ein unbekanntes Präparat mit vielleicht problematischeren Nebenwirkungen zu wechseln.
Auf der anderen Seite wissen wir, dass Schübe und fortgesetzte Krankheitsaktivität im ZNS langfristig zur Behinderungsprogression beitragen und sich Schübe bei länger dauernder Erkrankung immer seltener komplett zurückbilden.
Ich versuche dem Patienten daher meine Idee von „Therapiezielen bei MS“ näher zu bringen. Ich denke, dass es elementar wichtig ist, klare Ziele und Erwartungen an eine Therapie zu formulieren. Dieser Patient sollte aus meiner Sicht von einer Therapie erwarten dürfen, dass Schübe und MRT-Aktivität verhindert werden und dies zu einer Stabilität der Erkrankung auf allen Ebenen führt. Im Fachjargon nennen wir diesen Zustand „no evidence of disease activity“ abgekürzt NEDA, was soviel heißt wie „kein Anhalt für irgendeine Krankheitsaktivität“. Das ist augenscheinlich mit seinem Präparat zuletzt nicht mehr gelungen, weswegen ich einen Therapiewechsel empfehlen würde, um dieses Ziel wieder zu erreichen. Ich finde, gerade weil die Interferon-Therapie für den Patienten mit einigen Unannehmlichkeiten verbunden ist, ist es sein gutes Recht, ein maximales therapeutisches Ergebnis zu erwarten – im besten Fall die komplette Unterdrückung von Krankheitsaktivität – also NEDA. Wenn das nicht der Fall ist, hat er wahrscheinlich nicht die optimale Therapie.
Das Konzept von NEDA ist natürlich nicht unumstritten. Kritiker behaupten, dass man eine komplette Unterdrückung von Krankheitsaktivität mit den derzeitigen Mitteln nicht erreichen kann und halten die Formulierung eines solchen Ziels für nicht redlich.
Ich glaube aber, dass es grundsätzlich kein Fehler ist ein klares, wenn auch hochgestecktes Therapieziel zu formulieren, das wir aber individuell durch die neuen Medikamente durchaus erreichen können. Außerdem erleichtert es die Kommunikation, wenn Arzt und Patient ein eindeutiges Ziel verfolgen. Daher versuche ich – wenn immer möglich – therapeutische Strategien an diesem Ziel auszurichten.
Auf Patientenseite höre ich dann häufig die Sorge, man würde ggf. das „Pulver zu früh verschießen“ – man hätte dann doch nichts mehr „in der Hinterhand“. Ich glaube aber, die aktuell sehr aktive Entwicklung bei den MS-Medikamenten erfordert es überhaupt nicht, sich irgendetwas aufzuheben. Ich gehe eher davon aus, dass wir immer mehr wirksame Medikamente zur Verfügung haben werden, mit denen wir unsere Therapielziele erreichen können. Aus diesem Grund ist es immer der richtige Zeitpunkt, wenn man die Notwendigkeit sieht, eine Therapie zu optimieren.
Ich bin gespannt, wie sich mein Patient entscheidet…..
Ich finde ihre Berichte sehr hilfreich, gerade der Hinweis, dass man keine Scheu haben sollte, die Möglichkeiten der modernen Medizin in Anspruch zu nehmen.
Medikamente sind nun mal da um sie zu nehmen, wenn man krank ist und Ärzte sind dafür da um diese zu verschreiben.
Gerade das sich sogar positive Effekte auf Herde dufch die monoklonale antikörpertherapie feststellen lassen, finde ich absolut ermutigend.
Natürlich sind die großen Pharmafirmen profitgeil und verdienen an uns, allerdings wuerden sie ohne den anreiz so viel kohle zu verdienen auch nicht so viel forschen und ebend effektive mittel herausfinden, die die Krankheitsaktivität eindämmen können, von denen erkrankte Menschen profitieren.
Ich habe selber Multiple Sklerose.
Mein Neurologe gab bei mir, mit ähnlicher Konstellation, die gleiche Empfehlung. Ich fand seine und Ihre Argumentation, Herr Dr. Mäurer, nachvollziehbar.
Ich erwarte von meinem behandelnden Arzt eine ehrliche Meinung/ Einschätzung und nicht den Blick durch eine „rosarote Brille“. Darum verstehe ich wieder einmal die viele Kritik anderer Kommentatoren hier nicht!
Freue mich schon auf ein weiteres interessantes Thema! 🙂
Viele Grüße
Thomas
Gott sei Dank entscheide ich selbst was mit meinem Körper geschieht!!! Keinesfalls stelle ich ihn der Pharma- Industrie zu Verfügung!!!
Sehr geehrter Herr Professor,
Mir bleibt wirklich die Spucke weg, wenn ich Ihre Empfehlung lese… Ich bin fassungslos. Wenn es einem Menschen relativ gut geht, empfehlen Sie ein Medikament, was an Langzeitwirkung nicht erprobt ist u höchstwahrscheinlich mit einer Menge Nebenwirkungen daherkommt? Ich bin wirklich richtig erschrocken. Was bitte täten Sie mit diesem Mann ohne MRT Absicherung? Da wäre völlig unklar, ob er überhaupt MS hätte.
Und es wird zukünftig mit Sicherheit noch mehr neue Medikamente gegen die MS geben, immer teurere. Vor Kurzem waren noch die Interferone das Allergrößte, nun verschwinden sie peu a peu u machen Platz für die nächste Generation der überdimensional teuren Präparate. Das wird auch in 10 Jahren wieder so sein.
Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass Ihr Blog eine Werbeplattform ist. Das bestätigt mir erneut Ihr Beitrag oben.
Sie sind Chefarzt. Wenn ich mir vorstelle, dass Ihre Ober- u Assistenzärzte nur dann Ihr Wohlwollen u Anerkennung erhalten, wenn Sie nach Ihren Vorgaben agieren, bekomme ich Magenschmerzen.
M.
NEDA als Therapieziel wurde etwa im Jahr 2012 auf einem industrieunterstützten Expertenmeeting ausgerufen, an dem die Crème de la Crème der deutschen MS-Experten teilnahm. Es ging erklärtermaßen darum, Kriterien für die rechtzeitige Einleitung der Eskalationstherapie zu erstellen (Gold et al., Therapieziele von Basis- und Eskalationstherapien zur Behandlung der schubförmigremittierenden Multiplen Sklerose. Akt Neurol 2012; 39(07): 342-350), obwohl Studien mit Klasse I-Evidenz fehlten. Anders ausgedrückt, man wollte Kriterien festlegen, nach denen die stärkeren Immuntherapien früher als bisher den Patienten verabreicht werden sollen, auch wenn es keinen ausreichenden wissenschaftlichen Beleg dafür gibt, dass daraus eine langfristige Verminderung der Behinderungsprogression resultiert.
An der Datenlage hat sich seitdem nichts Wesentliches geändert, nur an der Nomenklatur. Basistherapie heißt jetzt Therapie der milden/moderaten Verlaufsform, Eskalationstherapie Therapie der (hoch-)aktiven Verlaufsform, und die NEDA-Kriterien werden intensiv unter Neurologen und Betroffenen verbreitet.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich denke auch, dass einzelne Betroffene davon profitieren können, und die gilt es zu identifizieren. Allerdings kann umgekehrt für alle diejenigen, die nicht profitieren, ein Therapieschaden entstehen, durch Nebenwirkungen, durch einschüchternde MRT-Befunde, schlechte Kommunikation …
Die Effektstärke, also der Anteil an Patienten, die einen Nutzen in Bezug auf Schubfreiheit haben, lag für Gilenya in der Freedoms-Studie bei 24 Prozent. Das ist ganz gut, und davon haben Betroffene auch was. Die Effektstärke lag für die Freiheit von Behinderungsprogression aber nur bei 6 Prozent. (siehe UKE-Broschüre Immuntherapie, im Anhang ca. S. 127-130: 24% wegen Gilenya schubfrei, 46% auch unter Placebo schubfrei, 30% auch unter Gilenya mit Schub. 6% wegen Gilenya progressionsfrei, 76% auch unter Placebo progressionsfrei, 18% auch unter Gilenya mit Progression. https://www.uke.de/kliniken/neurologie/downloads/klinik-neurologie/ISDIMS_Neufassung_Maerz2013.pdf) Das alles gilt nur für die Studiendauer von 2 Jahren, was darüber hinaus liegt, ist nicht gut untersucht.
Das muss man Patienten im Aufklärungsgespräch sagen, das wird in Paragraph 630 e BGB als Aufklärungspflicht für medizinische Heileingriffe gefordert, und das gilt auch für Therapien mit Medikamenten. Ein Arzt kann am Ende eines Aufklärungsgespräches auf Nachfrage natürlich noch seine eigene Meinung sagen, aber vorher geht es darum, den Patienten mit ausgewogenen Informationen in die Lage zu versetzen, eine Therapieentscheidung beurteilen zu können. Sie hatten Ihren Beitrag mit „Therapieziele“ überschrieben, aber es fehlt die Erläuterung von Alternativen.
Aber mal zu dem NEDA-Prinzip im Detail. Schübe zu verhindern ist, wie gesagt, ein klinisches Therapieziel, von dem ein Patient, so es erreicht wird, auch etwas hat. Allerdings ist die Korrelation zwischen der Schubrate nach den ersten zwei Erkrankungsjahren und der langfristigen Behinderung schlecht.
Bei MRT-Herden ohne klinische Symptomatik ist die Datenlage keineswegs eindeutig. In der Tat lassen sich gerade die „stummen“ MRT-Herde relativ gut „behandeln“, die Daten aus der Freedoms-Studie zu Gilenya sind wie folgt: 29% wegen Gilenya ohne neue MRT-Herde, 21% auch unter Placebo ohne neue MRT-Herde, 50% auch unter Gilenya mit neuen MRT-Herden. Aber, die Korrelation zwischen MRT-Befund und klinischer Symptomatik ist schlecht, und auch hier gibt es keinen ausreichenden Beleg, dass die medikamentöse Unterdrückung von MRT-Herden langfristig etwas an der Behinderungsprogression ändert.
Deshalb halte ich es tatsächlich für nicht statthaft, auf die lückenhaften klinischen Daten ein solch eingreifendes Therapiekonzept zu gründen. Als Ergebnis des erwähnten Expertenmeetings und überhaupt aller Expertentreffen unter MS-Spezialisten müsste m.E. die Schlussfolgerung resultieren, dass die vorhandenen klinischen Daten nicht ausreichend sind (in der Leitlinie ist das NEDA-Prinzip auch nicht drin!), und dass die MS-Experten selbst Therapieoptimierungsstudien beginnen müssen. Innerhalb dieser könnte das NEDA-Prinzip untersucht werden.
Man hört immer zwei Gegenargumente gegen bessere nicht-kommerzielle Studien, die untersuchen, welche Patienten von welchem Medikament in welcher Situation Vorteile hätten. Erstens seien sie unethisch, zweitens seien sie zu teuer.
Unethisch wäre es momentan, einem Patienten, der eine Immuntherapie wünscht, diese vorzuenthalten. Insofern wird es schwierig mit langen placebo-kontrollierten, doppelblinden Studien. Das ist aber keineswegs die einzige Methode mit hoher Evidenz. Und einen Therapiearm mit „active surveillance“ kann man selbstverständlich ethisch untersuchen. Ich würde den Neurologen empfehlen, sich bei Studiennetzwerken der Onkologen zu informieren, z.B. dem HIT-Netzwerk, den Hodgkin-Studien, oder aktuell auch zum Thema der PREFERE-Studie beim Prostatakrebs (http://www.prefere.de), wie man systematisch und unabhängig Therapieoptimierungsstudien durchführt.
Die Industrie würde in der Tat solche Studien nicht finanzieren, da doch Unpassendes herauskommen könnte. Bei dem „Zu teuer“- Argument greift man jedoch fälschlich die aufgeblähten Angaben der Industrie für Forschung und Entwicklung auf. Diese fallen bei Therapieoptimierungsstudien nicht in dieser Höhe an. Z.B. sind die Medikamente ja schon zugelassen und müssen von den Kostenträgern auch erstattet werden (das ist bei Onkologiestudien auch so).
Was fällt an Kosten für eine nicht-kommerzielle Studie denn an?
Kosten für Studientreffen, Studienorganisation, Monitoring (Qualitätskontolle der Daten), für Tätigkeiten, die von studienspezifischem Personal durchgeführt werden (Study nurses, Dokumentationsassistenten). Studientreffen können auf dem jährlichen DGN-Kongress stattfinden, wo die Neurologen sowieso hingehen. Sprich, die tatsächlichen Kosten sind erheblich geringer als die von der Industrie angegebenen.
Was in den nicht-kommerziellen Studiennetzwerken nicht anfällt, sind zusätzliche Entlohnungen für die Studienleiter, für Vortragende, Berater etc. Deren Studientätigkeit wird von ihrem Arbeitsvertrag als wissenschaftlich tätiger Arzt abgedeckt.
Du bist klasse, Jutta. Ich freue mich sehr über eure Arbeit im TAG Team. Ihr seid wichtig! Danke.
Wo bleibt da die Nutzen-Risiko-Abwägungen?
Wie sagte mal ein Neurologe zu mir: „Die Nebenwirkungen vom Interferon sind nervig, die vom Natalizumab können tödlich sein.“
„…wissen wir, dass Schübe und fortgesetzte Krankheitsaktivität im ZNS langfristig zur Behinderungsprogression beitragen und sich Schübe bei länger dauernder Erkrankung immer seltener komplett zurückbilden.“
Ist es nicht so, dass ein positiver Effekt auf die Behinderungsprogression für keines der verfügbaren Therapeutika DURCH STUDIEN belegt ist?
„Ich glaube aber, dass es grundsätzlich kein Fehler ist ein klares, wenn auch hochgestecktes Therapieziel zu formulieren, das wir aber individuell durch die neuen Medikamente durchaus erreichen können…“
INDIVIDUELL… klingt mir in dem Zusammenhang ein wenig nach ‚Versuch macht klug‘ und der unausgesprochenen Therapeutenhoffnung, positive Spontanverläufe mit einzubeziehen.
MfG
jerry
Bitte berichten Sie von der Entscheidung wenn es soweit ist.
MfG,
Faxe
Sehr gut, daß der Patient letztendlich entscheidet, nicht der Arzt. Nur – hat er nach dem Gespräch mit Ihnen wirklich noch die freie Wahl?
Wenn ich der Patient wäre, würde ich auch erst mal die Interferone absetzen, denn sie bringen offenbar nichts.
Bei dieser eher geringen Krankheitsaktivität würde ich entweder gar nichts nehmen und dann mal ein Kontroll-MRT machen lassen nach 1/2 oder 1 Jahr.
Oder ich würde erst mal Aubagio oder Tecfidera probieren.
Auf keinen Fall aber würde ich: „Fingolimod/Alemtuzumab,/Natalizumab“ nehmen, wie oben vorgeschlagen. Alles Mittel, die erhebliche Risiken mit sich bringen und die deswegen gottseidank nur für hochaktive MS zugelassen sind.
Übrigens dachte ich immer, das Motto der Neurologen wäre dieses:
Wir behandeln Menschen, nicht MRT-Bilder.