Schubförmig oder chronisch progredient – weitere Informationen

Ich habe mich gefreut, welches Interesse mein letzter Beitrag über die Verlaufsformen der MS hervorgerufen hat – der Artikel wurde ziemlich häufig geteilt und so viele Kommentare kurz nach der Online-Stellung gab es schon länger nicht mehr. Die Kommentare waren teilweise auch sehr emotional, woran man merkt, dass das Thema viele Betroffene bewegt.Emotionen sind verständlich, vernünftige Information, v.a. für diejenigen, die in meinem Blog Orientierung suchen, bringen weiter. Daher möchte ich das Thema etwas genauer ausführen und meine Aussagen unterfüttern. DocBlog soll keine wissenschaftliche Abhandlung sein, daher verzichte ich in der Regel in meinen Beiträgen auf eine (bei wissenschaftlichen Artikeln sonst übliche) Referenzierung meiner Aussagen – mir geht es ja v.a. darum, meine Herangehensweisen in kurzer, leicht verständlicher Form darzustellen. In diesem Fall mache ich gerne eine Ausnahme.

Woher wissen wir wie eine unbehandelte MS verläuft?
Wir beziehen uns hier in der Regel auf eine Kohorte, die im Jahr 1989 in der renommierten britischen Zeitschrift Brain publiziert wurde (Weinshenker BG, Bass B, Rice GP, Noseworthy J, Carriere W, Baskerville J, Ebers GC. The natural history of multiple sclerosis: a geographically based study. I. Clinical course and disability. Brain. 1989 Feb;112 ( Pt 1):133-46. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/2917275). Die Autoren haben den klinischen Verlauf von mehr als 1.000 unbehandelten Patienten sehr differenziert untersucht und konnten zeigen, dass nach einem Beobachtungszeitraum von 6- 10 Jahren ca. 30 – 40% der initial schubförmigen Patienten in einen sekundär chronisch progredienten Verlauf übergegangen sind. Im Median haben die Patienten dieser Kohorte nach 15 Jahren einen EDSS 6 erreicht (Notwendigkeit einer einseitigen Gehilfe). Die Autoren konnten zudem bei der Analyse der Kohorte zeigen, dass die Schubrate in den ersten zwei Jahren nach Diagnosestellung signifikant mit der Wahrscheinlichkeit korreliert, einen EDSS von 6 zu erreichen. Diese wichtigen Erhebungen zum natürlichen Verlauf der MS wurden von der kanadischen MS Gesellschaft finanziert.

Auf dieser und anderen Studien zum natürlichen Verlauf der MS basieren unsere grundsätzlichen Annahmen zum Verlauf einer unbehandelten MS:
1) über 80% der MS Patienten zeigen einen schubförmigen Beginn
2) über 50% der Patienten entwickeln nach 10 Jahren einen sekundär progredienten Verlauf
3) ca. 45% werden innerhalb von 10 Jahren frühzeitig berentet
4)  bis zu 65% der Patienten entwickeln kognitive Einschränkungen

Auch wenn immer mal wieder von einzelnen Patienten berichtet wird, die MS sei nicht „so schlimm“ verlaufen, so muss angesichts der relativ guten Datenlage bei der Gesamtheit der Patienten davon ausgegangen werden, dass eine unbehandelte MS langfristig zu Problemen führt.

Bringt eine immunmodulatorische Behandlung einen Vorteil?
Dazu gibt es aussagekräftige Studien. Da man zur Beantwortung der Frage lange Beobachtungszeiträume benötigt, gibt es die meisten Erhebungen zur Langzeitwirkung von Interferon-Präparaten und Copaxone, die eine moderate Wirkstärke (im Vergleich zu neueren Therapien) besitzen.

So hat im Jahr 2007 eine italienische Autorengruppe eine Arbeit zur Langzeitwirkung von Interferon-beta bei schubförmigen MS-Patienten in Annals of Neurology, einer renommierten US-amerikanischen Zeitung publiziert (Ann Neurol. 2007 Apr;61(4):300-6. Trojano M, Pellegrini F, Fuiani A, Paolicelli D, Zipoli V, Zimatore GB, Di Monte E, Portaccio E, Lepore V, Livrea P, Amato MP. New natural history of interferon-beta-treated relapsing multiple sclerosis. Ann Neurol. 2007 Apr;61(4):300-6.  http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17444502 – der gesamte Artikel ist auch frei abrufbar).

Die Analyse einer Kohorte von 1.504 schubförmigen MS-Patienten (1.103 IFN-beta-behandelt und 401 unbehandelt) über einen Zeitraum von 7 Jahren zeigt bei den behandelten Patienten eine statistisch hochsignifikante Reduktion des Übergangs in eine sekundär chronisch progrediente MS und außerdem eine hochsignifikante Verzögerung des Erreichens von EDSS 4 und 6  bei behandelten Patienten gegenüber unbehandelten Patienten. Die Studie wurde vom italienischen Gesundheitsministerium finanziert und unabhängig von der Pharmaindustrie durchgeführt.

Bringt die frühe immunmodulatorische Behandlung einen Vorteil?
Ebenfalls vom italienischen Gesundheitsministerium finanziert wurde eine Studie mit über 2.700 schubförmigen MS-Patienten in 15 MS Zentren zur Frage der Wirkung einer frühen gegenüber einer späten Therapie mit Interferon-beta (Trojano et al. Real-life impact of early interferon beta therapy in relapsing multiple sclerosis. Ann Neurol. 2009 Oct;66(4):513-20. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19847899).  Die frühe Therapie führte im Gegensatz zur später gegebenen Therapie zu einer signifikanten Verhinderung von Krankheitsprogression und Verzögerung des Erreichens von EDSS 4 und EDSS 6 – der Beobachtungszeitraum war ebenfalls 7 Jahre.

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Publikationen zum Langzeitverlauf der Studienkohorten aus den Zulassungsstudien aller MS Medikamente – teilweise existieren hier Daten mit Nachbeobachtungszeiten von über 20 Jahren. Übereinstimmend zeigen alle Studien, dass der o.g. natürliche Verlauf der MS erheblich moduliert wird –  es wird ein geringerer Übergang in eine SPMS und geringere Behinderung gesehen als vom natürlichen Verlauf zu erwarten wäre – dabei korreliert die Expositionszeit der Medikamente mit der Wirkung (also je länger, desto besser).

Die Registerstudien zu moderneren und hochwirksamen Medikamenten zeigen im Mittel sogar eine deutlich höhere Verbesserung der EDSS-Werte im Langzeitverlauf und eine fehlende EDSS-Progression. Allerdings basieren diese Daten erst auf einem Beobachtungszeitrum von 4 Jahren. (Wiendl et al. Epoch Analysis of On-Treatment Disability Progression Events over Time in the Tysabri Observational Program (TOP). PLoS One. 2016 Jan 15;11(1):e0144834. – http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26771747 – Artikel frei erhältlich)

Man kann also durchaus sagen, dass die Datenlage mittlerweile eindeutig für eine frühe und konsequente/wirksame Therapie spricht – auch mit Blick auf den langfristigen Verlauf der Erkrankung.

15 Kommentare

  1. @ Barocke Hörerin
    9. März 2016 um 8:19

    Sehr geehrte Mitleserin,
    dass Sie hier andere Datenerhebungen anführen ist ja sehr gut . Aber warum müssen Sie Dr. Mäurer hier irgendwas unterstellen? Wenn Ihnen der Blog nicht zusagt, dann gibt es doch bestimmt andere Blogs. Ich freue mich zumindest, dass Dr. Mäurer hier Informationen mitteilt, die einem langjährig Erkranktem immer noch weiter helfen. Sogar meine Frau versteht dadurch meine Erkrankung immer besser.
    An Dr. Mäurer:
    Danke für die Mühe. Geben Sie weiter Ihre Sicht der Dinge preis. Man kann sich immer zusätzlich informieren.

    Ich bin raus 🙂

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