Grafische Darstellung einer Liquorentnahme.

Neurale Stammzellen bei progressiver MS

Hier geht es um neurale Stammzellen bei progressiver MS. Vorsicht, Verwechslungsgefahr: Ich hatte im DocBlog schon einmal zur Stammzelltherapie Stellung genommen (s. DocBlog vom 25.10.2019) – allerdings zur Transplantation sog. autologer hämatopoetischer Stammzellen. Schon damals hatte ich betont, dass man beim Thema Stammzellen und Stammzelltransplantation immer genau definieren muss, was genau gemeint ist.

Autologe hämatopoetische Stammzellen

Bei der Transplantation autologer hämatopoetischer Stammzellen (AHSCT), die mittlerweile recht gut in klinischen Studien untersucht wurde, handelt es sich um eine Methode zur Rekonstitution des Immunsystems – also einer maximalen entzündungshemmenden Therapiestrategie, die vor allem bei jungen und hochaktiven MS-Patienten ihren Platz haben könnte und mittlerweile auch in Deutschland durch die Initiative des Kompetenznetzwerks MS (KKNMS) vorangetrieben wird (Deutsche Taskforce zur AHSCT bei MS gegründet). MS-Experten sind sich allerdings weitgehend einig, dass die AHSCT in der progressiven Phase der Erkrankung wahrscheinlich keine durchgreifende Wirkung mehr hat.

Nun wünschen sich aber vor allem Patienten mit progressiver MS und MS-bedingten Behinderungen Hilfe durch neue Therapien. Hier wird mit „Stammzelltherapie“ die Hoffnung verknüpft, geschädigte Nervenzellen ersetzen zu können und Körperfunktionen wieder herzustellen. Hierfür eignen sich aber keine autologen hämatopoetischen Stammzellen, sondern man hofft auf sog. neurale oder neuronale Stammzellen.

Neurale Stammzellen

Bei neuralen Stamm-/ Vorläuferzellen (neuronal precursor cells – NPC) handelt es sich um teilungsaktive, selbsterneuernde und multipotente Zellen, die in der Lage sind, sich in Astrozyten, Oligodendrozyten und Neuronen zu differenzieren. In der Theorie hofft man, dass diese Zellen in spezifische biologische Nischen oder geschädigte Bereiche einwandern und hier die Funktion des Nervengewebes durch strukturelle Reparatur fördern. Es besteht bei einem solchen Ansatz allerdings auch immer die Sorge, dass sich die teilungsaktiven Stammzellen nicht mehr kontrollieren lassen und im schlimmsten Fall zur Bildung von schnell wachsenden Tumoren führen. Deswegen ist auf dem Gebiet der neuralen Stammzelltransplantation ein bedachtsames wissenschaftliches Vorgehen notwendig und die Anwendung beim Menschen mit vielen Fragezeichen versehen.

Deswegen ist es bedeutsam, dass die Wissenschaft auf diesem spannenden Gebiet ein Stück weitergekommen ist. Anfang Januar haben italienische Forschende im renommierten Wissenschaftsjournal Nature Medicine eine Phase I Studie zur Anwendung von neuralen Stammzellen bei Patienten mit progressiver MS veröffentlicht (Genchi A et al. Neural stem cell transplantation in patients with progressive multiple sclerosis: an open-label, phase 1 study. Nat Med. 2023 Jan;29(1):75-85). Diese Studie, die bei Erscheinen auch intensiv in sozialen Netzwerken diskutiert wurde, möchte ich kurz vorstellen und einordnen.

Sicherheitsstudie zu NPC: Phase 1

Es handelt sich bei der Studie um eine offene klinische Phase I Studie an 12 Patienten mit progressiver MS (PMS- mit Hinweis auf Krankheitsprogression, EDSS ≥6,5, Alter 18-55 Jahre, Krankheitsdauer 2-20 Jahre, ohne alternative zugelassene Therapie). Die Patienten wurden in vier Behandlungskohorten (TC) aufgenommen und erhielten intrathekal (durch eine Lumbalpunktion) humane fetale neurale Stammzellen (hfNPC) in ansteigenden Behandlungsdosen (TC-A: 0,7 × 106; TC-B: 1,4 × 106; TC-C: 2,8 × 106; TC-D: 5,7 x 106 ± 10 % lebensfähige Zellen pro Kilogramm Körper Gewicht).

Das primäre Ziel der Studie war die Bewertung der Durchführbarkeit, der Sicherheit und der Verträglichkeit der intrathekalen Verabreichung von hfNPCs bei Patienten mit PMS. Die Sicherheit der hfNPC-Gabe wurde mit 22 Nachsorgeuntersuchungen über einen Zeitraum von 96 Wochen bewertet, wobei Überleben und unerwünschte Ereignisse (AEs) bewertet wurden. Daneben sollten hypothesengenerierende Daten zu potenzieller Behandlungseffekten von hfNPCs gewonnen werden.

Der primäre Sicherheitsendpunkt wurde erreicht. Es fanden sich keine schwerwiegenden Nebenwirkungen im Zusammenhang mit hfNPC bei der 2-jährigen Nachbeobachtung. Explorative Analysen zeigten eine niedrigere Hirnatrophie bei Patienten, die die höchste Dosis von hfNPC erhielten. Des Weiteren fanden sich erhöhte Spiegel von entzündungshemmenden und neuroprotektiven Faktoren im Liquor.

Nächster Schritt: Überprüfen der Wirksamkeit von NPC bei MS

Den Autoren der aktuellen italienischen Studie ist somit ein wichtiger Schritt gelungen, in dem sie die Sicherheit und Machbarkeit der intrathekalen Gabe von hfNPC untersucht haben. Über die Wirksamkeit dieser Therapie können mit Hilfe der Studie jedoch keine Schlüsse gezogen werden. Es werden lediglich einige interessante Wirksamkeitsendpunkte diskutiert, bei deren Interpretation man jedoch sehr vorsichtig sein sollte.

Zudem muss man bedenken, dass die sehr kleine, nicht-kontrollierte Studie auch noch keine definitiven Aussagen zur Sicherheit zulässt. Daher sollten zunächst größere Studien abgewartet werden, bevor man festlegt, ob das Konzept der hfNPC Gabe zukunftsfähig ist. In jedem Fall dürfen zum jetzigen Zeitpunkt bei Patienten mit progressiver MS keine falschen Hoffnungen auf diese Therapieform geweckt werden. Zudem sollte man die neue italienische Studie nicht mit den Erkenntnissen zur autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation vermengen – es handelt sich um einen komplett anderen Ansatz.

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