Neues von der AAN 2015 zur PPMS

Ich hatte Ende April die Möglichkeit, die Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) zu besuchen – der größte jährlich stattfindende neurologische Kongress, bei dem sich mehr als 10.000 Neurologen und Neurowissenschaftler treffen. Natürlich stand auch die Multiple Sklerose wieder im Fokus, und viele Vorträge und Poster beschäftigten sich mit neuen Therapien und neuen Strategien zur Behandlung der Erkrankung. Interessant war die Präsentation der Daten der INFORMS Studie. Ich hatte über diese Studie schon einmal in diesem Blog berichtet. In dieser Studie wurde die Wirkung von Fingolimod (Gilenya®) gegen Placebo bei primär chronisch progredienter MS (PPMS) getestet. Bereits in einer Pressemitteilung Ende 2014 war mitgeteilt worden, dass Fingolimod keinen Effekt auf die Krankheitsprogression bei PPMS gehabt hat. Die jetzt vorgestellten Studienergebnisse visualisierten dieses negative Ergebnis noch einmal sehr eindrücklich. Es war überhaupt kein Unterschied zwischen einer Placebo-Behandlung und der Verum-Behandlung festzustellen. Die Kurven verliefen nahezu deckungsgleich, auch unter Verwendung eines Compound-Parameters aus EDSS und MSFC, von dem man eine noch bessere Erfassung der Krankheitsprogression erwarten konnte.

Erstaunlicherweise hatte allerdings Fingolimod einen hochsignifikanten Effekt auf die Unterdrückung der entzündlichen Aktivität im MRT – ohne dass dieser Effekt jedoch eine Auswirkung auf den klinischen Verlauf hatte. Das ist eine extrem wichtige Erkenntnis: Man kann daraus ableiten, dass eine alleinige Entzündungshemmung in den späten, progredienten Phasen einer MS keinen wesentlichen Einfluss besitzt. Ob man daher gänzlich auf eine antientzündliche Therapie in diesen Krankheitsphasen verzichten sollte, ist eine andere Frage. Klar scheint aber, wie es Fred Lublin, der die Studienergebnisse präsentierte, auf den Punkt brachte: „Wir brauchen völlig neue Konzepte für die chronisch progrediente MS“.

Hochdosiertes Biotin

Interessanterweise wurde dann wenig später ein völlig neues Konzept zur Behandlung der chronischen MS präsentiert, das doch viele überrascht hat. Französische Forscher haben den Effekt von hochdosiertem Biotin (300 mg/d) auf den Verlauf der progredienten MS untersucht. Biotin ist ein wasserlösliches Vitamin, das als ein Koenzym für Carboxylasen an Schlüsselschritten des Energiestoffwechsels und der Fettsäuresynthese beteiligt ist. Unter anderem aktiviert Biotin die Acetyl-CoA-Carboxylase, ein potenzielles Schlüsselenzym der Myelinsynthese. Laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung gelten bei gesunden Erwachsenen 30–60 μg pro Tag als Schätzwert für die angemessene Biotin-Zufuhr. Die untersuchte Dosierung ist damit 10.000 Mal höher. In der Studie erhielten 154 Patienten entweder 300 mg/d Biotin oral (n = 103) oder Placebo (n = 51). Die durchschnittliche Krankheitsdauer betrug 16,6 Jahre, 41% litten unter primär und 59% unter sekundär progredienter MS. Die Patienten waren im Schnitt 51,4 Jahre alt und hatten einen mittleren EDSS-Wert von 6,1. Die Patienten mussten in den vergangenen zwei Jahren eine Behinderungsprogression um mindestens 1,0 EDSS-Punkt gehabt haben. Bestehende Therapien mit MS-Medikamenten wurden beibehalten. Der primäre Endpunkt war definiert als Anteil der Patienten mit einer Verbesserung des EDSS-Wertes nach neun Monaten, die auch nach zwölf Monaten noch Bestand hatte – also eine relativ starke Endpunktdefinition. Diesen primären Endpunkt erreichten 12,6% der Patienten der Biotin-Gruppe, während dies in der Placebogruppe kein Patient schaffte (p = 0,005). Der primäre Endpunkt wurde zu 77% über die Verbesserung des EDSS-Wertes erreicht und zu 39% über die 7.6 m Gehstrecke. Das Nebenwirkungsprofil der Studiengruppen zeigte keine wesentlichen Unterschiede, bis auf niedrige Schilddrüsenwerte in der Behandlungsgruppe. Also insgesamt ein überraschendes und ermutigendes Ergebnis, das sicherlich weitere Studienaktivitäten nach sich ziehen wird. Man darf gespannt sein, ob dieses Ergebnis reproduziert werden kann. In jedem Fall war diese Präsentation eines der interessantesten Ereignisse der diesjährigen Academy.

6 Kommentare

  1. „Das ist eine extrem wichtige Erkenntnis: Man kann daraus ableiten, dass eine alleinige Entzündungshemmung in den späten, progredienten Phasen einer MS keinen wesentlichen Einfluss besitzt. Ob man daher gänzlich auf eine antientzündliche Therapie in diesen Krankheitsphasen verzichten sollte, ist eine andere Frage.“

    Da stimme ich Ihnen zu. Das ist eine sehr brisante Frage, die wohl leider nicht von der Industrie (und auch kaum von der unabhängigen Forschung) weiter untersucht werden wird.
    Bei den Goldesel-Therapien heißt es weiter: Solange wie möglich nehmen und compliant bleiben – auch bei ausbleibender Wirkung!
    Dadurch werden nicht selten Umsätze im Gegenwert eines Einfamilenhauses generiert – pro Patient natürlich.
    Wo bleiben denn die Studien, die untersuchen, ob nach nach 10 Jahren spritzen und Co überhaupt noch jemand von den teuren und oft belastenden Therapien profitieren kann?

    Weiterhin finde ich es schade, daß sie überhaupt nicht auf unsere Fragen eingehen. Das Interesse scheint sich ja schwer in Grenzen zu halten.
    Aus dem Schulwesen gibt es einen Ausdruck dafür: Frontalunterricht. Mega-Out.

  2. Vielen Dank für die Uebermittlung der recht positiven Ergebnisse der Biotinprobanden.
    Eine Frage habe ich noch:
    Inwieweit korreliert Biotin mit der Alpha-Liponsäure?
    Diese Art Therapieoptionen wären vor allem für Patienten wir mich interessant, die unter einer MCS (Multiple Chemical Sensitivity) leiden und deswegen keine üblichen (synthetisch) hergestellten Therapeutika zur Immunsuppression nehmen können.
    Leonie

  3. Auch ich freue mich, daß Gilenya ausfällt.
    Was mich interessen würde, werden auch Studien zum Thema Biotin in Dtl stattfinden Herr Prof Mäurer??? Wäre klasse
    Danke für die interessante Info
    Viele Grüße
    Idefix

  4. Also verstehe ich das nun richtig das ich nach diesen neuen erkenntnissen über Gilenya,
    die Therapi mit Gilenya, einstellen kann, da diese so oder so nichts bringt bzw. nur das Immunsystem schädigt/schwächt?

    Beste Grüße

  5. Guten Tag, ich zähle zu dem Klientel, weiblich, 53 Jahre, primär chronisch ms, seit einem jahr nicht mehr stehen und gehen,wirbelsäule und Hüfte verdreht,, schmerzen durch bandscheibenprotusionen. Ich danke ihnen für die Arbeit für uns ms’ler und wünsche mir baldige Ergebnisse zur Linderung und wiedererlangung ein wenig an selbständigkeit
    selbständigkeit

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