MS und Alter

„Die Zeit spielt für Sie“ – das ist eine häufige Aussage, wenn bei älteren MS-Patienten Therapieentscheidungen anstehen. Wahrscheinlich muss ich jetzt erst einmal festlegen, was ältere MS-Patienten sind. Immunologisch betrachtet sind das MS-Patienten, die das 55. Lebensjahr überschritten haben. In diesem Zeitraum kommt es zu einer langsamen „Verschlechterung“ des Immunsystems – was wir als Immunoseneszenz (von lat. senescere = alt werden) bezeichnen. Die negative Auswirkung der Alterung des Immunsystems liegt darin, dass alte Menschen anfälliger für Infektionserkrankungen werden und im Alter das Risiko für Krankheit und Tod durch Krankheitserreger steigt. Diese veränderte Funktionsfähigkeit des Immunsystems im Alter hängt mit vielfältigen und komplexen Veränderungen der angeborenen und der erworbenen Immunität zusammen, die teilweise noch nicht ganz verstanden sind. So kann man eine altersbedingte verminderte Anzahl der weißen Blutkörperchen feststellen, eine verminderte Reifung von B-Zellen mit reduzierter Produktion von Antikörpern und eine Verschiebung des Zytokinprofils – also der Botenstoffe, die entzündungsfördernd oder entzündungshemmend wirken.

Diese grundsätzlich natürlich nicht tolle Entwicklung des Immunsystems im Alter trägt allerdings bei älteren Menschen mit Autoimmunerkrankungen wie der MS dazu bei, dass der „Drive“ einer solchen Erkrankung im Alter deutlich abnehmen kann. Nun sollte man sich zwar nicht „blauäugig“ darauf verlassen, denn der Prozess ist insgesamt noch zu wenig verstanden und es gibt natürlich immer individuelle Unterschiede. Trotzdem kann man das Phänomen der Immunoseneszenz in seine Überlegungen bei der Beratung von Patienten mit einbeziehen.

Wie sieht das nun praktisch aus? Ich bin kein Freund davon, Immuntherapien bei Stabilität abzusetzen – denn dann machen diese Therapien ja genau das, was man gerne erreichen möchte. Bei einem MS-Patienten aber, der das 55. Lebensjahr überschritten hat, ist bei Krankheitsstabilität ein Aussetzversuch (unter regelmäßiger Beobachtung) vor dem Hintergrund der anzunehmenden Immunoseneszenz vertretbar. Ein anderes Beispiel wäre ein Patient, der sich immer wieder gegen eine dauernde Immuntherapie entschieden hat. Hat er das 50. Lebenjahr überschritten, hat sich wie bei den meisten Patienten ohne Therapie eine Mobilitätsstörung entwickelt, die langsam progredient voranschreitet. Schübe hat er seit Jahren nicht mehr, das MRT zeigt keine wesentlichen Veränderungen – also eine klassische sekundär chronisch progrediente MS ohne Aktivität. Auch hier kann man vor dem Hintergrund der natürlichen Alterung des Immunsystems davon ausgehen, dass keine extremen Veränderungen mehr auftreten und eine Immunprophylaxe wahrscheinlich keinen großen Benefit mehr hat.

Die Überlegungen zur Immunoseneszenz sind allerdings eher genereller Natur. Sie sind keine Versicherung dafür, dass nicht auch im Alter noch deutliche Aktivitätszunahmen der MS erfolgen können, die auch ein medikamentöses Handeln erforderlich machen. Auch wenn es ungewöhnlich ist, auch ich habe manchmal über 70 jährige MS-Patienten, die immer noch Entzündungsaktivität zeigen. Daher können die oben genannten Beispiele nur als Einzelfälle gesehen werden. Dennoch denke ich, dass die Alterung des Immunsystems eine interessantes Phänomen ist, dass auf jeden Fall in die Beratung von Patienten mit einbezogen werden sollte.

17 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Prof. Mäurer,

    ich glaube, Sie haben das unglücklich formuliert! Es scheint so, dass die aktive Entzündungsphase mit heftigen Schüben im Alter wohl nachlässt. Das schafft die Hoffnung auf Ausbleiben einschränkender Schübe beim MS-Patienten. Dafür „tauscht“ der Patient im Umkehrschluss aber in hoher Prozentzahl die Progredienz der KH gegen die Schübe ein. Was da nun besser ist bzw. Hoffnung machen soll, ist doch sehr fragwürdig.

    Was mir außerdem nicht besonders gefällt ist der Unterton in Ihrem Post, der mal wieder die Unerlässlichkeit der medikamentösen Behandlung unterstreicht. Da fühle ich mich ja als Ablehner immer persönlich angesprochen! Mag sein, dass ich da für später was verpasse, aber HEUTE geh ICH tanzen, das war unter Avonex unmöglich!

    Weitere Worte spare ich mich aufgrund von noch nicht Erlebtem. Ich bin wohl noch zu jung. Aber jerry ist erfahrener und hat für mein Dafürhalten wichtige Dinge sehr gut auf den Punkt gebracht. Als „alter (betroffener) Hase“ sozusagen.

  2. Ich habe meine MS mit 49 Jahren, genau zu Beginn meiner Wechseljahre „bekommen“.
    Trotz inzwischen 8 jähriger Copaxone-Therapie habe ich auch jetzt (mit 59 Jahren) regelmäßig einen Krankheitsschub im Februar, der z. T. auch heftig ausfällt, und bei dem Kortison keinerlei Wirkung zeigt. Es wäre ja schön, wenn die MS mit fortschreitendem Alter „zahmer“ würde. Leider merke ich noch nichts davon.

  3. Lieber Herr Professor,

    ich hab’s geahnt, dass man sich auf mich MS-Alten (biologisch 61 Jahre, die MS hingegen erst ca 44 Jahre alt) nicht etwa blauäugig verlassen kann, denn ich fühl mich sowieso noch viel zu wenig verstanden und verkörpere in mir den individuellen Unterschied geradezu par excellence 😉
    Weil man bekanntlich aus sog. ethischen Gründen die Auswirkungen von Therapeutika nicht mehr gegen Placebo testet und insofern Garnichtseinnehmer wie mich gleichsam überhaupt nicht mehr berücksichtigt, braucht die schöne Neue Pharmadesignwelt nur noch paar Jährchen aufs Aussterben von uns Alten zu warten, und ‚heroisch eingreifende Therapien‘ werden völlig alternativlos sein, im Denken der Therapeuten wie auch Patienten (patiens = lateinisch für ‚geduldig ertragend‘)…

    Manchmal finde ich, als gerechten Ausgleich zum Totschweigen der Spontanverläufe müsste ich mir Einzelperson die Stimmgewalt einer Kohorte anmaßen dürfen, wenn ich davon erzähle, dass ich es nicht leicht hatte, aber mindestens so ‚gut‘ im Leben, wie den Jüngeren bei Einnahme von XY in Aussicht gestellt wird…
    Ironiemodus aus:
    Interessant, Ihr Beitrag zu den Zusammenhängen eines alternden Immunsystems. Spannend auch, an dieser Stelle eigentlich ausnahmsweise Antworten von LeidensgenossInnen zu lesen, die im Grunde von der Wirksamkeit von Immuntherapien überzeugt sind, darunter gleich drei, die andere Erfahrungen haben und zum Beibehalt jener auch im Alter ermuntern.

    Bei mir ist seit Jahren in etwa Stillstand bzw leichte Progredienz, von der ich nicht sicher bin, ob es dabei nicht einfach um Alterungsprozesse und stärkere Auswirkungen vorhandener Dysfunktionen auf die Lebensqualität geht. Es bleibt spannend…

    1. Danke für deinen Post. Ich bin 63 und ein Verweigerer. Ich nehme nur Weihrauch, Alpha Liponsäure und CBD. Bis jetzt komme ich klar bis auf eine Fussheberschwäche die schon sehr hinderlich ist. Ich habe starke Medikamentenunverträglichkeiten und beschränke mich daher auf NEM s. Gut zu wissen, dass man nicht allein auf der Welt ist vor allem in dem Alter

  4. Also, vielen Dank für den Blog und alle Beiträge!

    Ich hoffe darauf, dass irgendwann, irgendwie man dem „Geheimnis“ der MS auf den Grund kommt.

    MS Netzwerk

  5. Der ganze Beitrag klingt logisch! Ich persönlich habe aber große Zweifel an einer Verallgemeinerung! Schließlich läuft jede MS anders, und warum heißt es immernoch, je später man eine MS entwickelt, desto hartnäckiger ist Ihr Verlauf! Die meisten primär progredienten Fälle treffen meist ältere Menschen. Dies wäre völlig konträr zu diesem Artikel!
    Ich bezeichne mich als das absolute Gegenteil, denn ich entwickelte im zarten Alter von 14 Jahren meine erste Opticusneuritis, 10 Jahre später kam dann das volle Programm und schon stand die Diagnose! Seit Beginn einer Basistherapie habe ich nur alle paar Jahre mal ein „Schübchen“! Also hilft das IFNß bei mir sehr gut! Nach der dritten Infusion Corti bilden sich bei mir die Symptome immer sehr schnell zurück! Ich bin nun 42 Jahre alt und hoffe es bleibt mir eine Eskalationstherapie erspart!
    Ich denke, so richtig werden wir die MS wohl nie verstehen- trotz fortschreitender Forschung! Sie ist halt die Krankheit mit den tausend Gesichtern!

    1. Lieber Schreiber,

      ich habe die MS im Alter von 10 Jahren (bin jetzt 31) gestellt bekommen. Wäre dringend an Kontakt interessiert, da es sehr schwierig ist, irgendwelche anderen, in sehr jungen Jahren an MS erkrankten, zu finden.

      Würde mich sehr über Antwort freuen!

      Liebe Grüße Lilli

    2. Lieber Schreiber,

      ich habe die MS im Alter von 10 Jahren (bin jetzt 31) gestellt bekommen. Wäre dringend an Kontakt interessiert, da es sehr schwierig ist, irgendwelche anderen, in sehr jungen Jahren an MS erkrankten, zu finden.

      Würde mich sehr über Antwort freuen!

      Liebe Grüße Lilli

  6. ich habe seit 1989 meine MS die ersten Jahre unauffällig und ab 2003 also mit 49 Jahren tobt diese sich richtig in mir aus. Ab 2012 habe ich ca. 5-7 Schübe pro Jahr seit Dezember 2013 werde ich mit Gilenya behandelt mir geht es aber zusehends schlechter und ich kann nicht mehr gut laufen. Aber vielleicht wird alles besser die Schübe weniger wenn ich noch ein wenig älter werde .
    Liebe Grüße Brigitte Richter

  7. Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Mäurer,

    bei mir hat die MS ab 60 erst richtig „Fahrt aufgenommen“
    bis in den Rollstuhl innerhalb von 3 Jahren!

    Ich denke, dass es keinerlei Belege, Beweise oder Studien gibt
    und
    somit auch keinerlei aussagekräftige Prognosen für abnehmende Aktivitäten der
    MS im Alter evtl. basierend auf der
    Immunoseneszenz!
    Für mich ein weiteres unabwägbares Zeichen der
    „teuflischen“ MS, die weder in jungen Jahren, noch im Alter,
    fassbar, vorhersahbar,
    oder eingrenzbar ist.

    Sie drückten sich auch dahingehend aus!

    Mit freundlichen Grüßen

  8. BEi mir wurde mit 63 Jahren MS festgeatellt, Heute bin ich 66 Jahre alt und hatte jedes Jahr einige Schuebe. DIe letzten imNov. 2o15 und zwar 3
    stueck innerhalb von 3 Wochen.
    Seit 2 Jahren bekomme ich monatlich eine Tysapry Infussion ab diesem Monat auf eigene Verantwortung. MEine Frage gibt es bald ein Neues Medikament.?

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