Die Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) ist der größte neurologische Kongress weltweit und deckt alle Teilgebiete der Neurologie ab. Für die Diskussion von Neuigkeiten und Kontroversen im Bereich der MS ist die AAN nicht unbedingt das wichtigste Meeting. Trotzdem lohnt es sich natürlich hinzuschauen, welche Themen bei der diesjährigen Tagung, die vom 05. – 09.April in San Diego stattfand, diskutiert wurden.
Im Vordergrund standen dieses Jahr neben den neuen (McDonald) Diagnosekriterien, die leider noch immer nicht publiziert sind, vor allem die Studien zum BTKi Inhibitor Tolebrutinib (GEMINI I + II, HERCULES). Sie sind allerdings gar nicht mehr so neu und waren auch schon Thema von DocBlog Artikeln. Und schließlich wurden die Ergebnisse der Studien MINORE und SOPRANINO im Rahmen der großen Plenarsitzung „Contemporary Clinical Issues“ (aktuelle klinische Themen) vorgestellt. MINORE ist eine Studie, die sich mit der transplazentaren Übertragung des Antikörpers Ocrelizumab beschäftigt. SOPRANINO ist eine Studie, die den Übertritt von Ocrelizumab in die Muttermilch untersucht. Die Ergebnisse beider Studien sind interessant, sie waren auch schon länger bekannt, und ich hatte sie auch bereits in einem DocBlog Artikel Anfang 2025 besprochen. Der Grund, warum ich aktuell noch einmal auf diese Studien zurückkommen möchte, ist, dass ihre Ergebnisse zu Änderungen der Ocrelizumab-Fachinformation durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) geführt haben, die für Frauen mit Kinderwunsch eine große Bedeutung haben.
Studien zu hochpotenten MS-Therapien und Kinderwunsch
Daher kurz zu den Studien: In MINORE wurden 35 Frauen mit MS (mittleres Alter 34 Jahre) eingeschlossen, die im Mittel bereits 14 Monate mit Ocrelizumab behandelt waren und ihre letzte Infusion entweder 3.2 (0.3 – 4.5) Monate vor oder 1.9 (0.1 – 3.2) Monate nach ihrer letzten Regel erhalten haben. Damit wurden sie während ihrer Schwangerschaft potenziell mit Ocrelizumab exponiert. Im Nabelschnurblut der Neugeboreren und im Serum der 6 Wochen alten Säuglinge konnte Ocrelizumab allerdings nicht nachgewiesen werden. Auch die Anzahl der B-Zellen lag bei den Säuglingen im Normbereich. Und die beobachteten „Nebenwirkungen“ der Mütter und Säuglinge waren die typischen Beschwerden, die während Schwangerschaft, Entbindung und in der postpartalen Phase bei Müttern und Kindern zu erwarten sind.
In SOPRANINO wurden 13 Frauen mit MS (mittleres Alter 35 Jahre) eingeschlossen. Von ihnen hatten 8 bereits in der Vergangenheit Ocrelizumab erhalten. 5 haben nach ihrer Entbindung im Mittel nach 2 (0.5 – 5 Monaten) mit Ocrelizumab begonnen. Insgesamt 6 Frauen haben während dieser Zeit ausschließlich gestillt, 7 haben zum Stillen zugefüttert. Bei diesen Frauen war die Ocrelizumab-Konzentration in der Muttermilch vernachlässigbar. Im kindlichen Serum konnte Ocrelizumab nicht nachgewiesen werden.
Wie bereits erwähnt, konnten diese Daten die europäische Arzneimittelagentur davon überzeugen die Fachinformation für Ocrelizumab zu ändern. Bisher stand dort, dass bei Anwendung von Ocrelizumab für 12 Monate eine Kontrazeption (=Verhütung) durchgeführt werden sollte. Eine Empfehlung, die letztlich bei einer alle 6 Monate gegebenen Therapie unsinnig ist und zu großer Verunsicherung bei Frauen mit Kinderwunsch und Behandlern geführt hat. Die EMA hat jetzt auf der Grundlage von MINORE die Empfehlung zur Verhütung auf 4 Monate reduziert. Das ist zwar immer noch recht konservativ, aber signalisiert letztlich Frauen mit MS und ihren betreuenden Neurologen, dass Kinderwunsch und Ocrelizumab vereinbar sind.
Darüber hinaus wurde die Fachinformation auch auf Grundlage der Daten der SOPRANINO-Studie geändert und der Einsatz von Ocrelizumab während der Stillzeit zugelassen. Somit steht mit Ocrelizumab nun die erste und einzige hocheffektive Therapie zu Verfügung, die in Stillzeit zugelassen ist. Diese Veränderung sind zu begrüßen, denn sie ermöglichen die Vereinbarkeit einer effektiven Krankheitskontrolle mit der Gesundheit des (ungeborenen) Kindes.