Die Behandlungsmöglichkeiten der progredienten MS sind begrenzt – daher war das Interesse groß, als im Jahr 2015 auf dem amerikanischen Neurologenkongress erstmals die Studiendaten zum Einsatz von hochdosiertem Biotin bei progredienter MS vorgestellt wurden. Das Ergebnis: Hochdosiertes Biotin ist nicht wirksam. Trotz einiger Limitationen der Studie (kleine Fallzahl, Mischpopulation aus sekundär und primär chronisch progredienter MS, ungewöhnlicher primärer Endpunkt) ließen die Ergebnisse aufhorchen – während knapp 13% der Patienten, die 300 mg Biotin erhalten hatten nach 12 Monaten eine bestätigte EDSS Verbesserung zeigten, war dies in der Placebogruppe bei keinem Patienten (0%) der Fall. Während die meisten Wissenschaftler Zurückhaltung anmahnten und eine Bestätigung der Ergebnisse forderten, war die öffentliche Reaktion von Beginn an enthusiastisch. Findige Firmen fingen an, Biotin zu vermarkten, Apotheken stellten hochdosiertes Biotin als Magistralrezeptur her und viele Patienten ließen sich von dem entstandenen „Hype“ mitreißen – nebenbei wurden die Forderungen nach einer beschleunigten Zulassung von hochdosiertem Biotin für die progrediente MS immer lauter.
Es ist daher gut, dass die Zulassungbehörden (wie auch zuletzt in der Pandemie) ihren Prinzipien treu geblieben sind und von der Herstellerfirma (dem französischen Pharmaunternehmen Medday) eine Phase III Studie zur Bestätigung der ersten „Proof of Concept“-Studie verlangt haben. Diese Studienergebnisse sind Ende Oktober 2020 online und im Dezember 2020 als Print in Lancet Neurology (Safety and efficacy of MD1003 (high-dose biotin) in patients with progressive multiple sclerosis (SPI2): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial – PubMed (nih.gov)) erschienen – also schon eine Weile her, aber nachdem immer mal wieder nach Biotin gefragt wird, möchte ich das Thema noch einmal abschließend aufgreifen.
Kein signifikanter Vorteil von hochdosiertem Biotin
Zu dieser neuen Studie muss gesagt werden, dass sie handwerklich ausgezeichnet gemacht war und sehr sorgfältig in über 90 akademischen Zentren in über 13 Ländern durchgeführt wurde. Insgesamt wurden je über 300 Patienten mit progredienter MS in die Biotin- bzw. die Placebogruppe eingeschlossen. Primärer Endpunkt war (in Anlehnung an die erste „Proof of Concept Studie“) ein kombinierter Parameter aus Anteil von Patienten mit Verbesserung der EDSS-Behinderungsskala und/ oder Anteil der Patienten mit einer relevanten Verbesserung der 7,6 m-Gehstrecke (25 TFW) nach 12 Monaten Behandlung (bestätigt nach 15 Monaten) gegenüber den Ausgangswerten. Aber auch weitere konventionelle Studienparameter, wie die EDSS-Progression und die Sicherheit der Substanz wurden untersucht. oder die Veränderung der Gehgeschwindigkeit wurden gemessen.
In Bezug auf den primären Endpunkt verbesserten sich 39 (12%) Patienten der Behandlungsgruppe und 29 (9%) Patienten der Placebogruppe – dieser Unterschied war nicht signifikant. Auch für alle anderen Auswertungen ergab sich kein Vorteil für die Behandlung mit hochdosiertem Biotin. Behandlungsbedingte Nebenwirkungen traten bei 84% der Patienten der Biotingruppe und bei 85% der Placebopatienten auf, schwerwiegende Nebenwirkungen traten bei je 26% der Studienteilnehmer auf. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Biotin zwar eine sichere aber bei progredienter MS wirkungslose Substanz ist – und hierbei handelt es sich auch mit Blick auf die Qualität der Studie um ein unzweifelhaftes Ergebnis: Biotin ist eine Sackgasse!
Biotin als lehrreiche Story
Dementsprechend kann die Gabe von hochdosiertem Biotin bei MS nicht empfohlen werden. Vor dem Hintergrund, dass viele Labornachweissysteme auf einem Streptavidin-Biotin System beruhen führt die Einnahme von hochdosiertem Biotin sehr häufig zur Verfälschung von Laborbestimmungen, was u.U. gefährlich sein kann. Daher würde ich sogar weitergehen und sagen, die Einnahme von hochdosiertem Biotin sollte gänzlich unterlassen werden.
Die Story zu Biotin ist auch deswegen lehrreich, weil sie erneut zeigt, dass die Empfehlung und Anwendung eines Konzeptes erst nach einem Wirksamkeitsnachweis durch ein adäquates Studienprogramm vorgenommen werden sollte – und der steht auch für viele „Konzepte“, die aktuell gehypt werden, noch aus.
Ältere Beiträge zu hochdosiertem Biotin auf amsel.de:
Sie haben vergessen zu erwähnen, dass die Signifikanz bei Subpopulatonen unterschiedlich ausfiel so dass es logischerweise weiterführende Studien hätte geben können um dennoch eine Signifikanz nachzuweisen wenn es Gelder hierfür gegeben hätte. Da zu dem Zeitpunkt der Markt für private Finanzierung erschöpft war und MS Patientenorganisationen sich offensichtlich nicht zuständig fühlen bei solchen klinischen Forschungsaktivitäten zu unterstützen können sie wieder mal von „Sackgasse“ schreiben und ihre Patienten auf den St. Nimmerleinstag vertrösten. Vielen Dank.
P.S. Können sie andere aktuell verfügbare Therapien bei progrediente Formen nennen, die bei knapp einem Siebtel der Patienten zu nachhaltigen Verbesserungen führen?