ECTRIMS 2022 (1) – Hochwirksame Therapien

Endlich wieder in Präsenz! Nachdem in den letzten zwei Jahren Pandemie-bedingt das Meeting des European Committee for Therapy and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) virtuell veranstaltet wurde, haben sich jetzt wieder – bei dieser mit mehr als 7000 Teilnehmern wichtigsten klinisch-wissenschaftlichen MS Konferenz – MS Experten aus aller Welt vom 26.10. – 28.10.2022 in Amsterdam getroffen. Daher habe auch ich mich gerne auf den Weg nach Amsterdam gemacht – insbesondere um die Gelegenheit zu nutzen, viele Kollegen wieder persönlich zu treffen. Darüber hinaus erlaubte das Meeting einen sehr guten Überblick über die derzeit wichtigen Themen und Diskussionen rund um die Multiple Sklerose. Daran möchte ich Sie (wie schon in den vergangenen Jahren) teilhaben lassen und werde über die – aus meiner Sicht  – wichtigen Themenkomplexe berichten.

Hochwirksame Multiple Sklerose Therapien

Ein Schwerpunkt des ersten Tages war der Umgang mit hochwirksamen MS-Therapien. Es ist mittlerweile mit Hilfe von Registerdaten gezeigt worden, dass eine frühzeitige Behandlung mit hochwirksamen Therapien Krankheitsprogression signifikant verzögert kann. Daher ist die Frage berechtigt, ob nicht viel mehr MS-Patienten profitieren, wenn hochwirksame Therapien von Anfang an konsequent eingesetzt würden statt langsam auf hochwirksame Therapiekonzepte im Verlauf der Erkrankung zu eskalieren.

Unter dem Schlagwort „Flipping the Pyramide“ – also die Therapiestrategie umzudrehen und direkt mit hochwirksamen Therapien nach Diagnosestellung zu beginnen, anstatt primär mit moderat wirksamen Therapien zu starten und nur bei Bedarf zu eskalieren – hat Gavin Giovannoni (London) einen sehr pointierten Vortrag gehalten und die These vertreten, dass Neurologen mit der Gesundheit ihrer Patienten spielen, wenn Sie ihnen hochwirksame Therapien (zu lange) vorenthalten.

Auch wenn eine solche Forderung derzeit noch Widerspruch hervorruft, so haben auch die anderen Referenten dieser Sitzung darauf hingewiesen, dass prognostisch ungünstige Faktoren (wie z.B. eine hohe Läsionslast im MRT oder klinische Mitbeteiligung von Hirnstamm oder Rückenmark) die Therapieauswahl im Hinblick auf hochwirksame Therapien beeinflussen sollte. Darüber hinaus wies Dalia Rotstein (Toronto) in ihrem Vortrag darauf hin, dass ein frühes und regelmäßiges Monitoring nach Therapiebeginn erforderlich ist, um eine „Untertherapie“ rasch zu erkennen und eine Anpassung auf ein höherwirksames Medikament vorzunehmen. So sollte ca. 6 Monate nach Beginn einer Therapie eine MRT-Untersuchung erfolgen und bei fehlender Kontrolle der Entzündungsaktivität innerhalb von 6 – 12 Monaten eine Umstellung auf ein höherwirksames Präparat erfolgen. Daher sollten auch von Beginn an ausreichend Zeit für die Vorbereitung einer Therapieumstellung eingeplant werden. Hierzu gehört eine ausreichende Impfprophylaxe bzw. die Normalisierung von Laborwerten (insbesondere Lymphozytenzahlen). Auch wenn viele Neurologen in der Praxis hochwirksame Therapien zu Beginn der MS eher noch zurückhaltend einsetzen, so zeichnet sich angesichts der Diskussionen auf diesjährigen ECTRIMS ab, dass ein Paradigmenwechsel ansteht.

Gavin Giovannoni (London) unterstreicht seine Forderung nach einem Paradigmenwechsel auch mit dem Anspruch bei der Bewertung des Therapieerfolges. Man sollte nicht nur motorische Funktionen, sondern auch die „Hirngesundheit“ (Brain Health) als Ganzes im Blick haben. Damit meint er Fähigkeiten wie Kognition und mentale Leistungsfähigkeit. Diese Funktionen sind bei MS-Patienten häufig beeinträchtigt und nicht selten sehen wir tatenlos zu, wenn Patienten zunehmend unter Fatigue leiden oder im Beruf nicht mehr zurechtkommen, ansonsten aber physisch intakt sind. Auch der Anspruch der Erhaltung der Hirngesundheit rechtfertigt für ihn den frühestmöglichen Einsatz hochwirksamer Therapien.

Vor diesem Hintergrund war es interessant zu hören, was Brenda Banwell (Philadelphia), eine renommierte Expertin für kindliche MS, im Rahmen der ECTRIMS-Lecture über die Besonderheiten der kindlichen MS berichtete. Kinder haben häufig hoch-inflammatorische Manifestationen der Erkrankung. Das bedeutet, die MRT-Bilder von Kindern und Jugendlichen zeigen im Vergleich zu Erwachsenen bei Erstdiagnose eine deutlich höhere Anzahl von MRT-Läsionen. Trotz dieser hohen Entzündungslast kompensieren Kinder und Jugendliche (wahrscheinlich aufgrund der Plastizität des jugendlichen Gehirns) diese Situation sehr gut. Laut Brenda Banwell sieht man MS-betroffenen Kindern und Jugendlichen von außen die Erkrankung kaum an. Schaut man allerdings genauer hin, und beurteilt die Hirnentwicklung und die schulischen Leistungen der betroffenen Kinder- und Jugendlichen, so ergibt sich ein absolut katastrophales Bild. Die kognitiven Leistungen sind hochsignifikant unterschiedlich zu gesunden Kindern/Jugendlichen im gleichen Alter. Kinderärzte sind daher dazu gezwungen, mit Blick auf die Zukunft der Heranwachsenden, die „Hirngesundheit“ im Blick zu haben. Und hier war – so Brenda Banwell – die Einführung hochwirksamer Therapien für Kinder (u.a. aufgrund der sehr erfolgreichen PARADIGMS Studie mit Fingolimod, s. DocBlog „MS bei Kindern (2) – Therapie) ein echte Gamechanger. Nicht nur aufgrund der angenehmeren oralen Einnahme, sondern auch wegen der deutlich besseren Wirksamkeit auf die Inflammation. Vor dem Hintergrund, dass mittlerweile auch geklärt ist, dass die Diagnosekriterien, die für Erwachsene entwickelt wurden, auch bei Kindern valide sind, unterstützen die Erkenntnisse der kindlichen MS ebenfalls die frühe und konsequente hochwirksame Therapie von Erwachsenen mit MS.

Vor diesem Hintergrund gibt es aus meiner Sicht derzeit kaum mehr sinnvolle Argumente, der überwiegenden Mehrzahl der MS-Betroffenen eine hochwirksame Therapie bei Diagnosestellung vorzuenthalten.

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