Die neuen McDonald Kriterien

Im Jahr 2017 wurden die Diagnosekriterien der MS, die sog. McDonald Kriterien, durch ein internationales Expertengremium revidiert. Die Revision wurde Anfang 2018 in Lancet Neurology publiziert (Thompson et al. Lancet Neurol 2018; 17: 162–73). Revision der Diagnosekriterien – das klingt erst einmal nach einem wichtigen Thema. Ich glaube aber, die tatsächliche Bedeutung der aktuellen Revision für Patienten dürfte sich in Grenzen halten.

Die meisten meiner Leser wissen wahrscheinlich, dass die Systematik der McDonald Kriterien darauf beruht, dass man versucht, die für die MS typische «Dissemination in Raum und Zeit » mit Hilfe von MRT-Kriterien nachzuweisen, um dadurch die Diagnose MS möglichst früh stellen zu können. Die frühzeitige Diagnosestellung ist deswegen wichtig, weil die frühe und effiziente Therapie der Erkrankung sich in den letzten Jahren als das wesentliche Therapieprinzip herausgestellt hat.

In der aktuellen Revision der Diagnosekriterien hat man insbesondere die Kriterien für die zeitliche Dissemination verändert. Eine zeitliche Dissemination (d.h. zu verschiedenen Zeitpunkten kommt es zu Entzündungsaktivität im Gehirn) kann man mit dem MRT nachweisen, indem man entweder auf einer Folgeaufnahme neue Herde nachweist, oder wenn man ein Nebeneinander von frischen Herden (mit Kontrastmittelaufnahme) und älteren Herden (keine Kontrasmittelaufnahme mehr) nachweisen kann. Laut den McDonald Kriterien von 2010 durfte man hierbei symptomatische Kontrastmittel-aufnehmende Läsionen, also Läsionen, die für die aktuellen klinischen Symptome verantwortlich sind, nicht mitzählen. Ich habe diese Regel nie verstanden und bin daher absolut mit dieser pragmatischen Änderung einverstanden.

Darüber hinaus wurde in Bezug auf den Nachweis der zeitlichen Dissemination noch ein weiteres Kriterium eingeführt: Mit der 2017er Revision kann der Nachweis von oligoklonalen Banden im Liquor als Beleg für eine zeitlichen Dissemination der Erkrankung herangezogen werden. Das ist eine interessante Neuerung – und ein klares internationales Signal für die Bedeutung der Liquoranalyse.

In Deutschland ist die Liquoranalyse schon immer eine Standardmethode, die grundsätzlich zur Diagnose einer MS herangezogen wird. Daher waren deutsche Neurologen auch immer irritiert, dass dieses wichtige Instrument innerhalb der (von anglo-amerikanischen Experten dominierten) Diagnosekriterien in der Vergangenheit nicht aufgetaucht ist. Vor allem auch deswegen, weil einer der wichtigsten Grundsätze für die Diagnose einer MS ist, dass keine anderen Erklärungen für die neurologischen Symptome als eine MS vorliegen, also andere Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten. Für diese sog. „Differentialdiagnose“ ist der Liquor von großer Bedeutung.

Somit führt auch diese Neuerung in Deutschland eher zu einem Zugewinn an Pragmatismus. Ich will dafür mal ein kleines Beispiel anführen: Eine junge Frau kommt mit einer halbseitigen Gefühlsstörung in die Neurologie. Das MRT zeigt mehrere disseminierte Herde in der Kernspintomographie des Gehirns, allerdings nimmt keiner dieser Herde Kontrastmittel auf. Es liegt also eine örtliche Dissemination vor (Herde an unterschiedlichen Stellen des Gehirns) aber keine zeitliche Dissemination, weil nur „ältere Läsionen (=keine Kontrastmittelaufnahme)“ nachweisbar sind. Nach den alten McDonald Kriterien von 2010 kann somit keine MS diagnostiziert werden, weil die zeitliche Dissemination fehlt. Die junge Frau hat aber ein typisches entzündliches Liquorsyndrom mit dem Nachweis oligoklonaler Banden – und es ist daher ziemlich sicher von einer MS auszugehen und es muss mit weiteren Schüben gerechnet werden. Daher wurde in der Vergangenheit in einer solchen Situation der etwas unglückliche Begriff „CIS=klinisch isoliertes Syndrom“ gewählt, der anzeigt, dass zwar noch keine MS diagnostiziert werden kann, aber trotzdem eine MS vorliegt. Diese Begrifflichkeit ist aber alles andere als patientenfreundlich – weil eigentlich immer nur die Frage „was habe ich jetzt eigentlich“ übrig blieb.

Das ist jetzt zum Glück Vergangenheit. Ich kann in dem o.g. Fall aufgrund der oligoklonalen Banden eine MS diagnostizieren und das auch so dem Patienten kommunizieren und mit ihm Therapiemöglichkeiten besprechen. Durch die Diagnose stehen alle zugelassenen Medikamente zur Therapie zur Verfügung (für CIS sind formal nur die Interferone und COP zugelassen – alles andere ist eigentlich nicht erstattungsfähig).

Die Möglichkeit, eine MS frühzeitig behandeln zu können, ist der Grund, warum ich die Revision der Kriterien pragmatisch und sinnvoll finde. Es werden nicht alle meine Meinung teilen. Einige werden vermuten, dass die neuen Diagnosekriterien allein im Interesse der Industrie sind. Ich sehe das nicht so und werde in einem der nächsten Blogs über das „Will-Rogers-Phänomen“ schreiben: Ein statistisches Problem, das mit der Einführung neuer Kriterien auftaucht.

3 Kommentare

  1. Hallo ich bin ein Patient der noch keine sichere Diagnose MS hat. MRT war unauffällig ob wohl diverse Herde zusehen waren. Ein Herd am Sehnerv was meine Sehstörungen Doppelbilder Pupillenstarre erklärt. Im Liquor war das Gesamteiweiss erhöht aber keine o.Banden . Meine Füße brennen und jucken. Beine haben Gefühlsstörungen und schwindlig ist es mir auch. Kann es trotzdem MS sein ? Ich werde noch verrückt alles andere wurde ausgeschlossen. Nur die Entzündung des Hirnnerv bestätigt.

  2. „für CIS sind formal nur die Interferone und COP zugelassen – alles andere ist eigentlich nicht erstattungsfähig“
    FORMAL und EIGENTLICH bedeutet in der Praxis, es wurde bisher sowieso alles verschrieben, wenn der CIS Patient wollte.
    Sinngemäß: Ach, ich erinner mich – vor 2 Jahren hat es im linken Zeh gekribbelt, war dann wohl der erste Schub. Dann kann ich ja jetzt alles aus dem Portfolio auswählen und der Pharmaindustrie Umsatz generieren…Ich nehme mal, hmm – Tecfidera, ist ja ne Pille und ich muss nicht spritzen, voll gut…

  3. „Es werden nicht alle meine Meinung teilen. Einige werden vermuten, dass die neuen Diagnosekriterien allein im Interesse der Industrie sind.“

    Ja, ich z.B.

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