Die Frage nach der richtigen Dosis.

In den Kommentaren wurde schon häufiger die Frage nach der richtigen Dosierung von immunmodulatorischen Medikamenten diskutiert. Viele Patienten verstehen nicht, warum Ärzte in der Regel die volle (zugelassene) Dosis eines Medikamentes einsetzen, obwohl vielleicht eine niedrigere Dosierung im individuellen Fall verträglicher wäre. Andere haben die Sorge, dass sie generell mit zu hohen Dosen behandelt werden, die „ihr Immunsystem aus dem Gleichgewicht“ bringen, weil Ärzte und Industrie unkontrolliert „in die Vollen“ gehen. Diese letztere Sorge ist relativ unbegründet und beruht wahrscheinlich auf einer eher „homöopathischen“ Sichtweise. Es ist mitnichten so, dass man sich keine Gedanken über die Dosis macht – im Gegenteil. Grundsätzlich erfolgt die Zulassung einer bestimmten Medikamentendosis nicht ohne Grund. In der Regel beruht die Identifikation einer bestimmten Dosierung auf sog. Dosisfindungsstudien, die immer am Anfang der Medikamentenentwicklung stehen. Man testet hier unterschiedliche Dosierungen und versucht letztlich im Experiment die niedrigste Dosis zu finden, die die beste Wirkung und die geringsten Nebenwirkungen hat. Mit dieser Dosis wird dann die Weiterentwicklung eines Wirkstoffes betrieben. Als Beispiel hierfür sei z.B. Gilenya genannt. Hier hat man initial noch mit einer Dosierung von 5 mg experimentiert, später dann aber nur 0,5 mg zugelassen. Auch bei Tecfidera wurden in den Studien auch 720 mg Dimethylfumerat eingesetzt, beim Nachweis der gleichen Wirksamkeit von 480 mg dann aber letztlich die niedrige Dosis zugelassen.

Somit ist die Behauptung, dass die „Schulmedizin“ immer hochdosiert arbeitet, falsch. Der erste Diskussionspunkt – warum es eigentlich immer die volle zugelassene Dosierung im individuellen Fall sein muss, auch wenn Patienten individuell bessere Erfahrungen mit niedrigen Dosierungen eines entsprechenden Medikamentes gemacht haben – ist hingegen eine sehr interessante und wichtige Frage, die auf einem Problem klinischer Kohorten-Studien beruht und auch uns Ärzte in ein gewisses Dilemma bringt.

Das Dilemma besteht darin, dass ein Medikament – z.B. zur Behandlung der Multiplen Sklerose – behördlich in einer bestimmten Dosierung zugelassen wird. Das bedeutet, dass nur für diese Dosis Daten existieren, die verlässliche Auskunft zu Wirkung und Nebenwirkungen eines Wirkstoffs geben. Setze ich eine andere Dosis als die zugelassene Dosis ein, bewege ich mich letztlich auf unbekanntem Terrain und muss mein abweichendes Verhalten begründen. Eine Begründung könnte zum Beispiel sein, dass ich mit einer „anderen“ Dosis individuell bei einem meiner Patienten eine bessere Verträglichkeit erziele, ohne relevante Einbußen in der Wirksamkeit wahrzunehmen. Ein Beispiel könnte sein, dass ich bei einem Patienten unter einer täglichen Dosis von 0.5 mg Gilenya immer die empfohlene Grenze der Lymphozytenwerte unterschreite und daher die 0.5 mg nur noch jeden 2. Tag verordnet habe. Darunter blieben in der Folge die Blutwerte stabil und die Wirkung auf die MS war trotzdem ausreichend, wie stabile klinische Befunde und MRT Aufnahmen bewiesen haben. In diesem individuellen Fall wäre dann meine Abweichung von der zugelassenen Dosis begründet, ich darf diese Einzelfallbeobachtung allerdings nicht generalisieren.

Auf der anderen Seite untersuchen wir in Studien, die Basis für Medikamentenzulassungen sind, Kohorten von Patienten – also definierte Gruppen mit einer unterschiedlich hohen Anzahl von Individuen. Aufgrund der Heterogenität des Menschen, stellen diese Kohorten trotz einer strengen Definition von Ein- und Ausschlusskriterien eine Ansammlung von Individuen mit vollkommen unterschiedlicher Ausstattung bzgl. ihres Stoffwechsels, ihres Körperbaus, ihrer Muskelmasse etc. dar. Ein positives Ergebnis einer (Dosisfindungs)Studie bedeutet, dass sich die Mittelwerte zweier definierter Kohorten statistisch signifikant unterscheiden. Ein positives Ergebnis im Mittelwert bedeutet aber nicht gleichzeitig, dass eine so definierte „optimale“ Dosierung für ein einzelnes Individuum optimal ist. Es mag in der Tat so sein, dass ein einzelnes Individuum entweder weniger oder auch mehr an Menge eines Wirkstoffes benötigt, um eine optimale Wirkung bei optimaler Verträglichkeit zu erzielen.Natürlich ist es vor diesem Hintergrund eine legitime Frage, ob es sinnvoll ist, jeden Tysabri Patienten mit einer Dosierung von 300 mg alle vier Wochen zu behandeln, egal ob ein 120 kg schwerer Bodybuilder oder eine 50 kg leichte Abiturientin auf dem Infusionsstuhl sitzt.

Doch solange keine belastbaren Daten vorliegen, kann man nicht einfach von der Zulassung eines Medikamentes abweichen. Und ein guter Erfolg im Einzelfall, z.B. mit einer Dosisreduktion, darf nicht zur „Erfindung“ eines neuen Dosisregimes führen, das als allgemeingültig beworben wird – da schießen manchmal einige Leute über das Ziel hinaus. Die Forderung muss wahrscheinlich dahin gehen, dass man in Zukunft auch individualisierten Studien, sogenannten „one-person-trials“ (N of 1) mehr Bedeutung einräumt, und die Neuzulassung von Medikamenten ggf. auf einen Mix von verschiedenen Studien-Methoden basieren lässt. Die Zeit scheint hier in der Tat reif für ein Umdenken zu sein.

3 Kommentare

  1. Danke Prof. Mäurer! Dieses Thema beschäftigt mich schon sehr lange und ich finde es wunderbar erklärt!
    Ich persönlich wünsche mir keine neuen oder weiteren Studien, sondern Ärzten mehr Freiheit im Behandlungsregim ihrer Patienten!
    Das würde allen Beteiligten helfen und Vertrauen fördern.

  2. Und warum kann man nicht schon in den Studien X mg pro kg Körpergewicht verwenden? Bei Mitox geht die Dosis doch auch nach der Körperoberfläche und beim Fumaderm ist die Dosis ebenfalls deutlich individueller.

    Genauso wie es endlich Zeit wird, neue ordentliche Studien zur Schubbehandlung zu machen. Wie kann sich eine ganze Fachrichtung auf eine qualitative minderwertige Studie von einem Augenarzt aus dem Jahr 1992 beziehen?

    http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJM199202273260901

  3. Irgendwie ja auch logisch.
    In Studien wurde eine gewisse Wirksamkeit bei einer best. Dosis nachgewiesen. Damit begründet man eventuell seine Entscheidung für eine Therapie. Dann über eine Abweichung der Dosis nachzudenken (ohne medizinische Gründe wie z.B. Blutwerte) ist völlig unlogischer Quatsch.

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