Das Epstein-Barr-Virus, kurz: EBV, sorgt im Zusammenhang mit Multipler Sklerose immer wieder für Verwirrung. Daher beginnt hier der erste von drei Teilen mit Fakten und Überlegungen zu EBV und MS.
In den einschlägigen MS-Chats kommt immer mal wieder das Thema auf, ob MS nicht „ganz einfach“ mit antiviralen Therapien behandelt werden kann. Die Diskussion basiert auf der Annahme, dass die MS – im Gegensatz zur allgemein wissenschaftlich akzeptierten Sichtweise – keine Autoimmunerkrankung ist, sondern eine infektiöse, durch Viren vermittelte Erkrankung.
MS ist keine Virus-Erkrankung
Als ein Argument dient u.a. die Beobachtung, dass die MS-Inzidenz bei HIV-Infizierten Individuen niedriger ist als in der Allgemeinbevölkerung (Gold J et al. HIV and lower risk of multiple sclerosis: beginning to unravel a mystery using a record-linked database study. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2015; 86(1):9-12). Damit begründen Anhänger der Infektionshypothese u.a. mit der Wirksamkeit einer hochaktiven antiviralen Therapie (sog. HAART = Therapie bei HIV) gegen einen vermeintlichen (viralen) „MS-Erreger“. Daher wird in Foren manchmal die Einnahme antiretroviraler Therapien zur Behandlung der MS propagiert.
Nicht selten sind die Diskussionen sehr emotional und driften hin und wieder in Richtung von Verschwörungstheorien ab („Die Pharmaindustrie halte diese wichtigen Erkenntnisse zurück, um weiterhin teure Immuntherapeutika zu verkaufen“). Verschwiegen wird dabei, dass retrovirale Therapien in der Vergangenheit durchaus in klinischen Studien untersucht wurden, sich aber keine Wirksamkeit auf die Aktivität der MS nachweisen ließ (Gold J et al. A phase II baseline versus treatment study to determine the efficacy of raltegravir (Isentress) in preventing progression of relapsing remitting multiple sclerosis as determined by gadolinium-enhanced MRI: The INSPIRE study. Mult Scler Relat Disord. 2018; 24:123-128). Es besteht somit derzeit (insbesondere für die Industrie) keine überzeugende Evidenz, diesen Ansatz zu verfolgen – und daher ist auch von jeder Art von Selbstmedikation abzuraten.
EBV kann Autoimmunität begünstigen
Die Diskussion zu antiviralen Therapien hat zuletzt wieder Fahrt aufgenommen, nachdem Anfang 2022 eine viel beachtete Arbeit im renommierten Wissenschaftsjournal SCIENCE publiziert wurde, die eindeutig die Bedeutung des Epstein-Barr-Virus (EBV) für die Entstehung der MS belegen konnte. Ich hatte diese Arbeit bereits in einem Beitrag im Januar 2022 (s. DocBlog „Ursache der Multiplen Sklerose – neue Studie zur Rolle des Epstein-Barr-Virus (EBV)„) kommentiert. Und auch darauf hingewiesen, dass mit dieser Arbeit nicht belegt wurde, dass MS direkt durch EBV verursacht wird, sondern dass die Mechanismen der Krankheitsentstehung wesentlich komplexer sind. Dementsprechend ist diese Arbeit auch kein Argument dafür, MS mit antiviralen Therapien zu behandeln (was immer wieder in Chatgruppen passiert).
Nachdem das Thema EBV und MS von so großem Interesse ist, ist es sinnvoll an dieser Stelle ein paar Fakten zu EBV zusammentragen. Wenn man sich die Komplexität der Interaktion von EBV mit dem menschlichen Organismus vor Augen hält, wird schnell klar, dass die Mechanismen, wie EBV zur Entstehung von Autoimmunität beiträgt, noch nicht vollständig verstanden sind und sich dementsprechend derzeit aus den vorliegenden Erkenntnissen noch keine sinnvollen Strategien ableiten lassen. Eine antivirale Therapie allein ist sicher nicht die Lösung – und schon gar nicht mit Medikamenten, die zur Behandlung von HIV entwickelt wurden. Es handelt sich bei EBV, das zur Familie der Herpesviren zählt, um ein sog. DNA-Virus, während HIV ein humanes Retrovirus ist, das zunächst sein Erbgut, das in Form von RNA vorliegt, in DNA umschreiben muss. Die meisten HIV-Therapien zielen auf das Unterbinden dieses Vorgangs ab, der bei einer EBV-Infektion überhaupt keine Rolle spielt.
Daher werde ich in den nächsten beiden Beiträgen zum einen
- die EBV-Infektion erläutern und zum anderen
- zu einer möglichen Impfung gegen EBV Stellung nehmen.
Damit sollten meine Leser besser in der Lage sein, die aktuellen Diskussionsbeiträge zu EBV, antiviraler Therapie und MS einzuordnen.
Danke für die stets informativen und kompetent recherchierten Artikel.
Ein echter Lichtblick im Internet-Dschungel.
Vielen Dank, Prof. Dr. Mäurer!
Ich freue mich schon auf die beiden kommenden Artikel