Bewertung des Nutzen-Risiko Verhältnisses von Alemtuzumab (Lemtrada)

Viele von Ihnen werden es mitbekommen haben, vor allem aber sind Patienten, die mit Lemtrada behandelt wurden, beunruhigt, dass die europäische Arzneimittelagentur (EMA) am 11. April 2019 ein Sicherheitsverfahren zur Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses von Alemtuzumab in dem zugelassenen Anwendungsgebiet gestartet hat.

Bis dieses Bewertungsverfahren abgeschlossen ist, sollte die Therapie nur noch bei Patienten mit (hoch)aktiver schubförmiger MS eingesetzt werden, bei denen vorher Behandlungsversuche mit mindestens zwei alternativen Immuntherapien nicht funktioniert haben. Eine solche Empfehlung entspricht faktisch einem Aussetzen der Behandlung, bis das Verfahren abgeschlossen ist. Verständlicherweise sind jetzt
viele Patienten, die in der Vergangenheit mit ‚Alemtuzumab behandelt wurden, verunsichert und fragen diesbezüglich nach.

Was ist genau passiert bzw. was ist der Grund für die Einleitung des Sicherheitsverfahrens? Nun, dass Lemtrada kein ganz „einfaches“ Medikament ist, ist bekannt. Nach der Gabe besteht das Risiko, dass in der Folge Autoimmunerkrankungen auftreten – daher müssen bis zu 4 Jahre nach der letzten Infusion regelmäßig Laborkontrollen durchgeführt werden. Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse sind verhältnismäßig häufig, Probleme im blutbildenden System oder an inneren Organen sind sehr selten, aber gefährlich, wenn sie nicht rechtzeitig entdeckt werden. Auf der anderen Seite ist die Therapie sehr wirksam – man kann nach einigen Jahren Erfahrung mit dem Medikament sehen, dass die Patienten, die auf die Therapie ansprechen, sehr lange (auch ohne weitere Therapie) stabil bleiben und die MS über Jahre gut kontrolliert ist. Daher stand bisher – trotz aller bekannten Risiken – der Nutzen der Medikation im Vordergrund.

Beunruhigend ist bei den aktuellen Erkenntnissen zur Medikamentensicherheit aus meiner Sicht weniger das Auftreten von weiteren Autoimmunphänomenen, wie z.B. das Auftreten autoimmuner Leberschädigungen, zumal diese durch Laborkontrollen erkennbar wären. Ernsthafte Sicherheitsbedenken beruhen vor allem auf der Beobachtung von zerebrovaskulären Ereignissen (Schlaganfälle, Hirnblutungen), die in enger zeitlicher Verbindung mit den Alemtuzumab-Infusionen standen. Insgesamt sind in den letzten Jahren 13 Schlaganfälle (vorwiegend durch Hirnblutungen) inklusive Dissektionen von Hirnarterien aufgetreten, zum Teil auch mit tödlichem Ausgang. In den meisten Fällen traten diese Ereignisse 1 – 3 Tage nach der ersten Lemtrada-Infusion auf. Über den genauen Mechanismus streiten sich derzeit die Experten, aber ein grundsätzlicher Zusammenhang mit dem Medikament ist wohl anzunehmen.

Daher sollte bis zur offiziellen Klärung, ob die derzeitigen Maßnahmen zur Risikominimierung ausreichend und effektiv sind, von Neueinstellungen abgesehen werden. Patienten, die bereits mit dem Medikament  behandelt werden und davon profitieren, können in Absprache mit ihrem Arzt die Behandlung fortsetzen. Konkret bedeutet dies, dass Patienten, die bereits den ersten Zyklus erhalten haben, auch den zweiten Zyklus erhalten können – vorausgesetzt, sie sind damit einverstanden. Zum einen sind die Gefäßkomplikationen beim ersten Infusionszyklus aufgetreten und die Sicherheitsmaßnahmen bezüglich autoimmuner Nebenwirkungen müssen auch nach dem ersten Infusionszyklus für weitere 4 Jahre durchgeführt werden. Einen richtigen Vorteil bringt der Wechsel auf ein anderes Medikament – insbesondere wenn ein Ansprechen auf Lemtrada zu beobachten ist – nicht. Für diejenigen, deren Lemtrada-Gaben schon länger zurückliegen und die sich in der Phase der therapiefreien Remission befinden, gilt, sich nicht von der Aufregung anstecken zu lassen und wie geplant die Laborkontrollen zur Risikominimierung durchzuführen.

Grundsätzlich ist nicht auszuschließen, dass Lemtrada aufgrund der aktuellen Erkenntnisse seine Zulassung verliert, oder ggf. nur noch als Reservemedikament verfügbar ist. Ich fände das zugegebenermaßen schade, da das Konzept der Induktionstherapie, dass erstmals mit Alemtuzumab in der Therapie der MS eingeführt wurde, von großem Interesse ist – und in der Tat auch bei vielen Patienten (insbesondere zu Beginn der Erkrankung) sehr gut funktioniert hat.

7 Kommentare

  1. Ich bin seit 6 Jahren in einer Kohorte im Universitätsspital Basel mit BT Betaferon plus Vit. D. SPMS, EDSS 5.5 MS seit 2002, SPMS seit 2009, seit 3 Jahren und 6 MRT mit 3 Tesla stabiler Verlauf.

    1. 2009 war der Verlauf so schlecht, dass wir mit einem „mab“ eskalieren wollten. Die Krankenkasse bestand auf einen Versuch mit Betaferon. Es gibt Alternativen. Im Oktober hole ich mir mit einer Gehstrecke von 200 Meter anstelle der jetzigen 130 Meter EDSS 5.0 zurück. Am rechten Handgelenk spüre ich die Stimmgabel wieder.

  2. Habe 2016 erstmals Alemtuzumab bekommen und bin seither schubfrei. Auch mich haben die jüngsten Negativschlagzeilen verunsichert. Ihnen ist es gelungen, die Fakten verständlich aufzubereiten, einzuordnen und meine Ängste zu dämpfen. Nach meinen guten Erfahrungen mit Alemtuzumab fände ich es schade, wenn dieser Wirkstoff in Zukunft anderen Patienten verwehrt bliebe. Aber natürlich hat die Sicherheit oberste Priorität.

  3. Wie gut, dass ich mich gegen jede Art von Basistherapie, resp. Multiple Sklerose-Therapie, die mir von meinem Neurologen angeboten wurden, entschieden habe.

  4. Ich bin immer wieder erstaunt wie leichtfertig Sie und Ihre Kollegen mit den Nebenwirkungen umgehen. So eine Autoimmunhepatitis kann innerhalb von wenigen Tagen zu einem fulminantes Leberversagen führen und dann heißt es Transplantation oder Tod.

    Diese tollen Blutkontrollen bringen da überhaupt nichts, aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Selbst Schübe mit kompletten Querschnitten inkl. Plasmapherese und längerer Reha waren harmlos im Vergleich zum fulminanten Leberversagen.

    1. Das ist etwas sehr wichtiges, was du da ansprichst. Denn diverse Nebenwirkungen, auch wenn sie erkannt werden, sind eben nicht immer beherrschbar! Siehe Zinbryta…

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