Austherapiert?!

Als ich vor kurzem die Kommentare durchgegangen bin, bin ich auf folgende Zeilen von Sas gestoßen. Sie/Er schrieb am 17.01. : „Oft werden wir schwer Betroffenen einfach vergessen und die Ärzte zucken die Schultern, wenn die das erste Mal das Wort “austherapiert” in den Mund nehmen. Ab diesem Zeitpunkt steht man ganz allein da und muss für sich entscheiden, wie man weiter verfährt.“Das Wort „austherapiert“ hat mich lange beschäftigt. Wie frustrierend muss es sein, als Patient so wahrgenommen zu werden – die Formulierung ist wirklich furchtbar. Dass man sich da reichlich verlassen vorkommt, ist mehr als verständlich.

Aber klar, die öffentliche Diskussion dreht sich vorwiegend um die Behandlung der frühen schubförmigen MS Verläufe, bei deren medikamentöser Therapie in der Tat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Es ist aber auch klar, dass die moderne Immuntherapie nur einen Aspekt der MS Therapie darstellt – ohne Zweifel einen sehr interessanten und dynamischen Teil, aber eben auch nur einen Teil.

Ich denke, wir Ärzte, insbesondere wir Neurologen, haben deutlich mehr zu bieten. Denn MS Therapie ist nicht automatisch mit medikamentöser Immuntherapie gleichzusetzen, sondern beinhaltet vieles mehr – auch spezialisierte Physiotherapie, Sport und Bewegung, symptomatische Therapien verschiedener Körperstörungen und nicht zuletzt Gespräche –  sind Therapieformen, die gleichberechtigt neben der Immuntherapie stehen und individuell angepasst eingesetzt werden müssen – mit dem Ziel, die Lebensqualität unserer Patienten zu verbessern, gleich in welchem Stadium der Erkrankung sie sich befinden. Von daher kann ein MS Patient nie „austherapiert“ sein, man kann immer etwas tun – und man sollte auch immer etwas tun.

Allerdings muss man anerkennen,  dass sich bei Betrachtung unterschiedlicher Stadien der MS der therapeutische Focus verschiebt. Während sich zu Beginn der Erkrankung sehr vieles um Entzündungskontrolle und damit um Immunmedikamente dreht, tritt diese Strategie bei schwerer Betroffenen eher in den Hintergrund. Im Gegenteil, hier ist es häufig so, dass die Nutzen-Risiko-Abwägung meist gegen eine Immuntherapie spricht – aber deswegen darf man keineswegs von „austherapiert“ sprechen, wenn man einen Patienten mit fortgeschrittener MS behandeln soll. In den späteren Stadien spielen vor allem Strategien, die auf die Behandlung der MS Symptome ausgerichtet sind, eine wichtige Rolle – und dies ist therapeutisch eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, der man sich mindestens mit soviel Zeit und Intensität widmen sollte, wie einer Immuntherapie.

Häufig kann eine optimale symptomatische Therapie auch nur durch Ausprobieren und häufige gegenseitige Rückkopplung zwischen Arzt/Therapeut und Patient erzielt werden. Hierfür aber geben uns die Kostenträger sowohl im ambulanten Bereich, als auch in den Akuthäusern wenig Spielraum. Man muss klar sagen, dass die symptomatische Therapie der MS derzeit die Domäne der Rehabilitationskliniken ist. Daher empfehle ich auch immer wieder diese Möglichkeit intensiv einzufordern und zu nutzen – aber es muss natürlich auch eine Klinik sein, in der sich sowohl Ärzte als auch Therapeuten mit MS auskennen.

Darüber hinaus ist es auch immer wieder erstaunlich, was mit Physiotherapie und regelmäßiger Bewegung erreicht werden kann, insbesondere wenn solche Therapien zu „richtigen“ sozialen Kontakten mit Gleichgesinnten führen. Wir haben neulich eine Studie zur Wirkung von Hippotherapie bei fortgeschrittener MS gemacht und es war erstaunlich zu sehen, wie erheblich diese Patientengruppe von der Maßnahme profitiert hat – insbesondere im Hinblick auf die mentale Stärke am Ende der Intervention. Natürlich war das mit den Pferden eine tolle Sache, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man diesen Effekt auch durch gemeinsames Rudern, Klettern oder Sitzyoga erreicht hätte. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass wir die Wichtigkeit und die Wertschätzung solcher Interventionen viel fester in unser Konzept von MS Therapie intergrieren und kommunizieren – ich glaube, dann werden solche „Austherapiert“ Statements hoffentlich immer seltener werden.

Vielen Dank an Sas – und viele Grüße an die Leser

8 Kommentare

  1. Natürlich war das mit den Pferden eine tolle Sache, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man diesen Effekt auch durch gemeinsames Rudern, Klettern oder Sitzyoga erreicht hätte.

    Guckt man nur auf die mentale Stärke, dann mag diese Aussage zutreffen. Dafür reicht bei manchen Patienten auch ein Kaffeekränzchen. Hat man starke beinbetonte Spastiken, dann gibt es kaum eine bessere Therapie als das Pferd.

    Im Schritt überträgt das Pferd eine ähnliche Schwingung wie sie beim Gehen entsteht und dadurch lassen sich bei vielen Patienten schmerzhafte Spastiken sehr gut lösen. Schade, dass Sie in der Studie auf die falschen Dinge geguckt haben.

    Ich reite seitdem ich denken kann und bin sehr froh, dass ich meine Hippotherapie selber machen kann. An schlechten Tagen, mit vielen Schmerzen, gibt es nichts Besseres als eine halbe Stunde im Schritt auf einem Pferd, dabei muss das nicht mal ein speziell ausgebildetes Therapiepferde sein.

    Es macht mich traurig derartige Schlüsse von Ihnen zu lesen. Die Schweiz ist da wesentlich weiter und hat die Hippotherapubereits als Heilmittel anerkannt.

    1. @lisa
      hast Du mal hinterfragt welchen zeitlichen und qualifizierten Aufwand es bedarf ein geeignetes Therapiepferd, einen qualifizierten Trainer, einen geeignete Reithalle und die nicht zu vergessene Finanzierung zu schultern ? Wie viel geeignete Orte gäbe es denn derzeit in Deutschland ? Wie ist das denn versicherungsrechtlich abgedeckt wenn eine betroffene Person, die in der Regel zuvor keine Reiterfahrung hat (das werden die meisten Betroffenen sein) , vom nicht geeigneten Pferd (….kein Therapiepferd) fällt….schon mal daran gedacht ?
      Die immens reiche Schweiz kann sich’s leisten !

      Im vergleich hierzu sind Physiotherapeuten und alle damit zusammenhängenden erforderlichen Resourcen vielfach vorhanden. In der Tat gäbe es da noch viel zu tun die Kostenträger zu motivieren und diese Verordnungen außerhalb des Budgets der verordnenden Ärzte zu nehmen.

      Abschliessend bemerkt bin ich mir ziemlich sicher dass Prof. Mäurer sehr wohl genau hingesehen hat.

  2. „Austherapiert“ vielleicht in dem Sinne, dass sich mit diesen MS-Patienten kein Geld mehr verdienen lässt – keine lukrative Anwendungsbeobachtung nirgends. Im Gegenteil, sie kosten nur noch. Welcher Neurologe verschreibt schon gerne durchgängig Krankengymnastik oder Logopädie. Und für Gespräche werden sie nicht angemessen bezahlt. Da wird vermutlich schon mal der ein oder andere „Austherapierte“ durch konsequentes Schulterzucken abgewimmelt.

    1. @Barocke Hörerin
      …naja, ich glaube, auch der Patient der sich für eine Basistherapie entscheidet, kostet viel. Also zumindest das Gesundheitssystem. Und die Pharmafirmen freuen sich. Wobei sie beim „austherapierten“ Patienten wie Du schreibst dann ja wohl tatsächlich auch anderweitig nicht mehr profitieren.

      Wenn man die hunderte von Millionen, die die Krankenkassen pro Jahr für Basistherapien bezahlt anschaut, sind die Patienten mit Basistherapie sogar sehr teuer.
      Ich weiß nicht, ob die Kosten, pro Patient z.b. für Physio- und Ergotherapie pro Jahr anfallen vergleichbar hoch sind. Und ich finde, dass das sehr sinnvolle Therapien sind!
      Finde es sehr schade, dass für die symptomatische Therapie wie Professor Mäurer schreibt wenig Spielraum ist. Vielleicht abgesehen von den Rehakliniken.

      Es will einfach nicht in meinen Kopf, dass so teure Basistherapien, von denen nur wenige profitieren mal eben von den Kassen finanziert werden, es bei anderen hilfreichen Maßnahmen aber wie gesagt wenig Spielraum gibt.
      Meine persönliche Erfahrung: selbst wenn ich zeitlich zum Teil nur kurz von den Physio- oder Ergotherpeutischen Maßnahmen profitiere, so habe ich doch immer einen Profit.
      Die Basistherapie hatte nicht nur keinen Nutzen, ich habe auch noch nach jeder Injektion mindestens eine halbe Stunde lang Schmerzen gehabt, hatte zum Teil üble, über Stunden dauernde Muskelkrämpfe, wenn ich aus Versehen einen Muskel angespritzt habe und habe mich eigentlich während der gesamten Therapiezeit krank gefühlt (wie sich später rausstellte wahrscheinlich wegen Unverträglichkeit auf Trägerstoff des Medikaments).
      Und für diese Erfahrung musste ich auch erstmal meine Spritzenphobie überwinden. Auch nicht witzig.
      Auf die gesamten Erfahrungen hätte ich gerne verzichtet und stattdessen lieber etwas mehr Physiotherapie gehabt.

      Bin etwas abgeschweift, aber es gibt doch sehr Vieles, was im Bereich der MS- Therapie irgendwie „seltsam“ ist, bzw läuft.

      LG, leia

  3. Ich glaube, dass es von Sas nur so gemeint war, dass die typischen MS-Mittel nicht mehr angewandt werden können. Auch mein Neurologe sprach von „austherapiert“. Wie alle Betroffenen wird dann nach symptomatischer Therapie und unter anderem auch Physio und Ergo, Rehasport und Co gesucht. Kein Patient gibt nach diesen Worten wirklich auf! Nur ganz oft fühlt man sich in der klassischen Neurologenpraxis dann nicht mehr aufgefangen. Wird es schlechter, zuckt auch der Arzt mit den Schultern. Tausendmal erlebt.
    Ich verstehe das Anliegen von Sas gut und begreife nicht, dass hier der Eintrag aufgegriffen wird, um den Blogeintrag zu verlachen.

  4. immunmodulatorisch austherapiert ist vielleicht zutreffender.
    ich gelte als ‚austherapiert‘-imurek,avonex,rebif22,rebif44,copaxone+mithoxantron-.ms seit gut 30 jahren,fußgängerin mit stock und mittlerweile immer häufiger rollator.was ich immer bis zum heutigen tag bekam waren physiotherapie mehrmals wöchentlich und regelmäßige ms-fachklinik aufenthalte.ich denke auch,daß physio-,ergo-und/oder hippotherapeutische erlebnisse und erfolge,so klein sie auch sein mögen,mental stärken.bei mir auf jeden fall.symptomatisch wird natürlich weiter und angepasst therapiert, und ich habe diese vielleicht etwas unglückliche formulierung nie als das ende vom lied begriffen.
    H

  5. Volle Zustimmung, das Wort austherapiert im Zusammenhang mit MS ist seltsam und völliger Schwachsinn.

    Es würde ja bedeuten das z.B. KG oder Schmerzmittel von den Ärzten nicht mehr verordnet werden ab einem gewissen Stadium der MS. Das hab ich noch nie gehört dass eine symptomatische Behandlung irgendwann beendet wurde wegen längerer und fortgeschrittener MS.

    So etwas klingt mehr nach Frust ablassen und der Welt die Schuld geben an der eigenen Situation und deutet auf Nachholbedarf in Sachen Coping hin.

    MfG,
    Faxe

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