Propionat und die Rolle des Darms

Für oral aufgenommene Substanzen wie Vitamin D, Salz oder auch Nahrungsfette spielt der Darm mit seiner Gesamtlänge von über 5.5 Metern, einer Oberfläche von ca. 35 m2 und seiner Vielfalt von Mikroorganismen im Darmlumen (Darmflora)eine besondere Rolle.
Bei den Keimen im Darm (in ihrer Gesamtheit auch als Mikrobiom bezeichnet) unterscheidet man zwischen Keimen mit Nutzen für den Menschen (sogenannten Symbionten, z.B. mit nützlichen Effekten auf das Immunsystem), Keimen ohne krankhafte Bedeutung (Kommensalen) und Keimen, die möglicherweise krankhafte Bedeutung haben können (Pathobionten, die z.B. zu Entzündungsprozessen beitragen können). In der Situation eines Equilibriums besteht ein Gleichgewicht zwischen Symbionten und Pathobionten. Eine mikrobielle Dysbalance im Darm mit Überwiegen der Pathobioten und von pro-inflammatorischen Einflüssen wird als Dysbiose bezeichnet. Eine solche Dysbiose kann durch eine Vielzahl von Einflüssen hervorgerufen werden – man denke z.B. an medizinische Einflüsse wie Antibiotikagebrauch – kann aber letztlich auch durch den Lebensstil des Individuums (Stress, diätetische Faktoren) beeinflusst werden.

Im Hinblick auf Autoimmunerkrankungen wie der MS ist es derzeit eine attraktive Hypothese, dass Veränderungen im Darm mit einer Dysbalance des Immunsystems für die Entstehung von Autoimmunität eine wichtige Rolle spielen. Daher kommt dem Mikrobiom (und seiner möglichen Beeinflussung durch dietätische Faktoren) eine wesentliche Bedeutung zu. Grundlage hierfür ist eine Studie vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München aus dem Jahr 2011, in der an einem genetisch veränderten Mausmodell unter Verwendung vollständig keimfreier Mäuse mittels Transferexperimenten eindeutig gezeigt werden konnte, dass eine Darmflora zumindest im experimentellen Modell unbedingte Voraussetzung für die Entstehung einer autoimmunen Entmarkung im ZNS ist.

Trotz dieser wesentlichen Erkenntnis zur Rolle des Darms für die Autoimmunität bleibt die Frage nach einem konkreten Darmkeim, der für die MS mitverantwortlich sein könnte, nach wie vor offen – und es ist auch unsicher, ob diese Frage überhaupt beantwortet werden kann.

Auffällig ist, dass alle bisherigen Studien unterschiedliche Veränderungen des Mikrobioms fanden und sich kein einheitliches Muster zwischen den unterschiedlichen Kohorten nachweisen ließ. Die meisten Studien gehen zudem über einen rein deskriptiven Ansatz nicht hinaus. Dementsprechend ist es vor dem Hintergrund der Studienlage auch völlig irrig und abwegig, wenn Drittanbieter Stuhltransplantationen zur Behandlung der MS propagieren. Eine solche Maßnahme entbehrt zum jetzigen Zeitpunkt jeder rationalen Grundlage.

Angesichts der bisher etwas enttäuschenden Ergebnisse in der Betrachtung einzelner Darmkeime bei der MS erscheint das Konzept attraktiv, dass für das  intestinale Mikrobiom nicht nur die reine Anzahl einzelner Keime, sondern vielmehr ihre Stoffwechselprodukte eine Rolle spielen. So führt die Aufnahme faserreicher Kost zur Produktion kurzkettiger gesättigter Fettsäuren (wie Acetat, Butyrat und Propionat) im Darm, die günstige Effekte auf das Darmepithel und auch direkt auf Immunzellen ausüben.

Funktionelle Studien zeigten, dass die Zugabe von Propionat zu T Zellen in Kultur die Frequenz regulatorischer T Zellen erhöhte und gleichzeitig die Frequenz pro-inflammatorischer Zellen reduziert. Ähnliche Beobachtungen fanden sich in vivo nach Gabe von Propionat im MS-Modell mit einem abgemilderten Verlauf und einer Reduktion von Entmarkung und Axonschaden.

Propionat findet sich in vor allem in Krustazeen und hatte bis zu den 1990er Jahren als Konservierungsmittel von Brotprodukten Anwendung. Dementsprechend ist die Substanz in Deutschland als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen und im Internethandel auch erhältlich. Nach ersten positiven immunologischen Studien bei Gesunden und auch MS-Patienten könnte die Substanz eine interessante Ergänzung als add-on Therapie zu den zugelassenen Immuntherapeutika bei MS darstellen.

Viele MS-Patienten setzen dieses Konzept mittlerweile schon praktisch um, obwohl es eigentlich noch keine endgültigen Beweise für die Nützlichkeit von Propionat gibt. Da Propinat allerdings ein ungefährliches Nahrungsergänzungsmittel ist, verhält es sich wahrscheinlich ähnlich wie mit Vitamin D – gegen eine pragmatische Einnahme ist vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse nichts einzuwenden.

Dies war Teil 1/4. Die weiteren Beiträge rund um Ernährung und Multiple Sklerose (MS) gibt es hier:

3 Kommentare

    1. Im Artikel steht doch „Propionat findet sich in vor allem in Krustazeen“ – Krustazeen sind Krebstiere – da gehören z.B. alle Arten von Garnelen und Krebsen dazu. Bei diesen dann aber drauf achten, dass sie mindestens aus biologischer Aquakultur oder aus nachhaltigem Wildfang stammen, da sie sonst extem mit Antibiotika und anderen schädlichen Chemikalien belastet sind.
      Leider kenne ich keine großgewachsene Süßwassergarnelen-Art, die sich mal eben problemlos im heimischen Aquarium vermehren ließe (meine Red Fire Zwerggarnelen vermehren sich zwar im fischfreien Aquarium massenhaft, aber die sind was für den hohlen Zahn, die Pulerei lohnt da nicht…)

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