Induktion versus Eskalation – was ist das vielversprechendere Regime

Mit der Verfügbarkeit zelldepletierender Antikörper wie Alemtuzumab oder auch Ocrelizumab kommt immer häufiger die Frage auf, ob wir unsere Strategie zur Behandlung der MS ändern müssen.Aktuell werden die meisten Patienten mit einem sogenannten Eskalationskonzept behandelt. Das bedeutet, man beginnt die Therapie mit einem Medikament, das zwar nur eine moderate Wirkung besitzt, aber dafür sehr sicher ist, also kaum ernsthafte Nebenwirkungen hat. Ist die Wirkung unzureichend, wird die Therapie durch Umstellung auf ein höher wirksames Medikament optimiert – für die höhere Wirkung ist man dann auch bereit, ernstere Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen. Dieses Vorgehen ist vor allem durch den Wunsch nach einer hohen Patientensicherheit getrieben, was absolut nachvollziehbar und erstrebenswert ist.

Auf der anderen Seite hat das Eskalationskonzept den Nachteil, dass manchmal sehr viel Zeit verloren geht, bis die Entscheidung zum Wechsel auf eine wirkungsvollere, aber auch „potentiell gefährlichere“ Substanz vollzogen wird. Zeit, die viele MS-Patienten aufgrund eines doch recht aktiven Verlaufes nicht haben und die viel Funktionsfähigkeit kosten kann.

Deshalb wird immer wieder die Frage diskutiert, ob es nicht viel sinnvoller wäre, bei Diagnosestellung einer Multiplen Sklerose eine Behandlung so effizient wie möglich zu beginnen – also von Beginn an mit einem hochwirksamen Medikament zu therapieren und zugunsten der hohen Effektivität auch die „gefährlicheren“ Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen. Bei einem solchen Vorgehen spricht man auch von einer Induktionstherapie.

Alemtuzumab oder auch das kürzlich zugelassene Cladribin sind Medikamente, die sich für solche Induktionskonzepte eignen. Sie sind sehr wirksam, werden nur kurzfristig zu Beginn eines Behandlungsjahres gegeben und beinhalten das Versprechen eines langen therapiefreien Intervalls. Dem gegenüber stehen allerdings potentielle schwerwiegende Nebenwirkungen und damit verbunden auch häufigere Laborkontrollen. Insgesamt sind aber die Nebenwirkungen eher selten – daher ist die Frage berechtigt, was eigentlich grundsätzlich dagegen spricht, MS-Patienten zu Beginn mit einem Induktionskonzept zu behandeln?

Nun, in erster Linie ist da sicher die Angst davor, dass man zu viele Patienten übertherapiert. In der Tat gibt es ja auch genügend Patienten, die mit einem moderat wirksamen und nebenwirkungsarmen Basistherapeutikum (Interferone, Glatirameracetat) gut zurechtkommen.

Ein weiteres Argument, das immer wieder genannt wird ist, dass sich die MS im Verlauf als gutartig (benigne) herausstellt. Über den Begriff „benigne MS“ lässt sich streiten. Ich gebe zu, dass ich ihn persönlich überhaupt nicht mag. Ich denke, man kann nur dann von gutartigem Verlauf sprechen, wenn man tatsächlich das ganze Leben eines Patienten rückwirkend betrachten kann – d.h. nur wenn ein MS-Patient über 70 Jahre alt ist und es ihm in allen Belangen gut geht. Bei einer 25-jährigen würde zumindest ich niemals den Begriff „benigne MS“ gebrauchen, denn in einem solchen Fall kann niemand vorhersagen, was noch kommt, da es keine eindeutigen prognostischen Faktoren gibt. Und schon oft hat eine vermeintlich gutartige Erkrankung ihr Auftreten verändert.

Auch vor dem Hintergrund, dass viele Patienten sich zwar körperlich fit fühlen, aber durchaus schon kognitive Einschränkungen durch die MS in Kauf nehmen müssen, wird der Begriff „benigne MS“ relativiert.

Fairerweise muss man aber sagen, dass auf dem letzten ECTRIMS-Meeting in Paris Daten einer Londoner Kohorte mit einem ersten demyelinisierenden Ereignis gezeigt wurden, aus der viele Individuen auch ohne Therapie einen relativ gutartigen Verlauf genommen haben. Angesichts solcher Daten wäre es wahrscheinlich überzogen, jedem Patienten eine Induktionstherapie zu empfehlen.

Eine „hit hard and early“-Strategie bleibt aber in jedem Fall interessant, wenn es gelingt, mit Hilfe von Biomarkern zu Beginn diejenigen Patienten zu identifizieren, die ein hohes Risiko für eine schwere Erkrankung haben. In der Zukunft könnte ggf. die Bestimmung von Neurofilament aus dem Serum ein solcher Biomarker sein. Solange wir hier aber noch keine definitiven Tests haben, sollten wir zum jetzigen Zeitpunkt vor allem die MRT-Aufnahmen und das Fortschreiten der Läsionslast im MRT als Marker und Entscheidungshilfe für eine angemessene Therapiestrategie heranziehen.

4 Kommentare

  1. und wieder wurde mein kommentar zurückgehalten! bitte endlich veröffentlichen!

    Sie schreiben:
    „Eine „hit hard and early“-Strategie bleibt aber in jedem Fall interessant, wenn es gelingt, mit Hilfe von Biomarkern zu Beginn diejenigen Patienten zu identifizieren, die ein hohes Risiko für eine schwere Erkrankung haben.“
    Da gehe ich d’accord!
    Aber leider steht das meines Wissens völlig in den Sternen.
    Leider geht der Trend dahin, alle Neudiagnostizierten sofort zu behandeln, indem man ihnen mit dem Rollstuhl droht. Sehr effektiv! Leider kommen dabei viel zu oft auch gefährliche Therapien zum Einsatz. Auch bei fehlender/geringer Krankheitsaktivität (Kanonen auf Spatzen).
    Die oft unkalkulierbaren Folgen hat dann übrigens der Patient zu tragen, nicht der verschreibende Neurologe!
    Völlig unverantwortlich.
    Dabei wird ignoriert, daß die Mehrheit der Patienten auch unbehandelt einen guten bis moderaten Verlauf hat.
    Dieser Blog trägt leider dazu bei, den PatientInnen unnötig Angst zu machen und über die Möglichkeit, erst mal abzuwarten, überhaupt nicht aufgeklärt wird.
    Ich z.b.: Ohne Therapie, seit 12 Jahren Schub- und völlig behinderungsfrei. Aber solche Patienten wie ich machen einen großen Bogen um Praxen wie Ihrer, Herr Prof. Mäurer. Da können Sie ganz sicher sein!
    Und deshalb bekommen sie wohl sehr selten unbehandelte MS-Patienten mit gutem Verlauf zu Gesicht.

  2. Ich finde Sie haben absolut recht, der Begriff „benigne MS“ ist mit aller größter Vorsicht zu gebrauchen!
    Ein toller Beitrag! onma.de/webdesign-hannover

  3. der denkansatz „hit hard and early“ hört sich sehr interessant an, wenn sicheres monitoring gewährleistet wird.
    das hört man sonst nur von den amerikanischen neurologen.

    sehr guter beitrag!

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